Nachruf auf Hans-Dietrich Genscher (1927 bis 2016)

"Das Europa von heute hat eine Botschaft. Das ist das Europa der gleichen Würde der Menschen, der Völker, der Gerechtigkeit, Freiheit, Demokratie. (...) Die Welt wird nur stabil, wenn sie von allen Völkern als gerecht empfunden werden kann und wenn alle erkennen, dass Groß und Klein gleichberechtigt und ebenbürtig sind."
 
"Freiheit ist mehr als 'Besser verdienen'".
 
"Nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärkung des Rechts schützt die Interessen aller Staaten am besten."
 
"Wenn ich zu entscheiden hätte, ob wir eine Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne eine Regierung haben sollten, würde ich ohne Zögern das letztere vorziehen."
 
Hans-Dietrich Genscher (* 21. März 1927 in Reideburg, heute ein Stadtteil der Stadt Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt) ist am 31. März 2016 in Wachtberg-Pech im Alter von 89 Jahren an Herz-Kreislauf-Versagen gestorben. Er lebte dort mit seiner zweiten Ehefrau seit 1977.
 
Ich werde ihm ein ehrendes Andenken bewahren und ihn nie vergessen. Ich habe ihn sehr geschätzt und ob seiner Leistungen und seiner Energie und Tatkraft auch bewundert - vor allem mit Blick darauf, daß er im Winter 1946/47 mit 19 Jahren schwer an der damals nicht heilbaren Tuberkulose erkrankt war, sich drei Monate in einem Sanatorium aufhalten mußte und noch die folgenden zehn Jahre immer wieder zu längeren Krankenhausaufenthalten gezwungen war.
 
Genscher war - ohne es natürlich zu wissen - maßgeblich daran beteiligt, daß ich angefangen habe, mich für die Tagespolitik und für die politischen Parteien zu interessieren und zu dem Entschluß gekommen bin, mich selbst politisch zu engagieren.
 
Als Genscher am 22. Oktober 1969 als Bundesminister des Innern in die von Bundeskanzler Willy Brandt geführte Bundesregierung berufen wurde, war ich gute zwei Jahre alt.
 
In seine Amtszeit fiel die Geiselnahme israelischer Sportler im Jahr 1972 während der Olympischen Spiele in München. Genscher stellte sich als Austauschgeisel zur Verfügung; dies wurde von den palästinensischen Geiselnehmern jedoch abgelehnt. Nach dem blutigen Ende der Geiselnahme wies Genscher am 26. September 1972 den Bundesgrenzschutz an, die Anti-Terror-Einheit GSG 9 aufzustellen. (Im Jahr 2014 bezeichnete er das Scheitern der Geiselbefreiung als den Tiefpunkt seiner Karriere.)
 
Genscher war aber auch der erste Umwelt(schutz)minister der Bundesrepublik. Denn er bündelte bereits zu Beginn der 1970er Jahre verschiedene Zuständigkeiten in seinem Ministerium und baute so quasi erstmals ein Umweltministerium unter dem Dach des Innenministeriums auf. So haben sich Liberale schon für den Umweltschutz und damit den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen engagiert, als an Die Grünen bzw. Bündnis 90/Die Grünen noch niemand dachte.
 
Er bekleidete das Amt des Bundesinnenministers bis zum 16. Mai 1974. An diesem Tag wurde er als Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler in die nun von Helmut Schmidt geleitete Bundesregierung berufen, der am gleichen Tag zum neuen Bundeskanzler gewählt worden war. Ich war sechs Jahre alt und habe davon nicht wirklich etwas bewußt mitbekommen.
 
Als Außenminister beteiligte er sich maßgeblich an den Verhandlungen über den Text der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die im Jahr 1995 mit Hilfe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) institutionalisiert werden sollte.
 
In dieser Funktion stand Genscher für eine aktive Entspannungspolitik zwischen Ost und West und das Zusammenwachsen der Europäischen Gemeinschaften. Entschlossen und mit großem diplomatischem Geschick trat er für die Überwindung der Spaltung Europas, der Teilung Deutschlands und des Kalten Krieges ein.
 
Auf dem Bundesparteitag der FDP vom 30. September bis zum 2. Oktober 1974 in Hamburg wurde Genscher dann auch am 1. Oktober 1974 als Nachfolger von Walter Scheel, der am 15. Mai 1974 zum Bundespräsidenten gewählt worden war und dieses Amt am 1. Juli 1974 angetreten hatte, zum Bundesvorsitzenden gewählt. Er blieb es, bis auf dem Bundesparteitag vom 23. und 24. Februar 1985 in Saarbrücken Martin Bangemann am 23. Februar 1985 zu seinem Nachfolger gewählt wurde.
 
Unter Genschers Vorsitz wurde mit der Einführung des Zusatzes "Die Liberalen" im Jahr 1976 endlich ein Versäumnis der Vergangenheit nachgeholt und deutlich gemacht, daß die FDP sich als liberale, als die liberale Partei Deutschlands sieht.
 
Sollte sie zunächst Liberaldemokratische Partei heißen, einigte man sich mehrheitlich auf Freie Demokratische Partei. Denn es waren nicht nur Liberale, sondern auch Deutschnationale an der Gründung beteiligt. Dies gipfelte 1952/53 in der sogenannten Naumann-Affäre, dem Versuch von (ehemaligen) Nationalsozialisten, die FDP zu unterwandern. Aber auch danach war das Thema nicht beendet.
 
Bei der Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 wurde die sozialliberale Koalition erneut bestätigt. Trotzdem wirkte Genscher ab Mitte 1981 - hierbei vor allem unterstützt durch den Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Otto Graf Lambsdorff - auf ein Ende der Koalition zwischen SPD und FDP hin.
 
Grund war die Zunahme der Differenzen zwischen den Koalitionspartnern z. B. im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik ("Lambsdorff-Papier" vom 9. September 1982). Aber auch die zunehmende Abkehr der SPD vom NATO-Doppelbeschluß und damit von den Grundlagen der bisherigen gemeinsamen Sicherheitspolitik spielte wohl eine wesentliche Rolle.
 
Im Zusammenhang mit dem NATO-Doppelbeschluß hatten Bundeskanzler Schmidt und Außenminister Genscher in Moskau vermittelt. Danach war die sowjetische Führung bereit gewesen, mit den Vereinigten Staaten über Mittelstreckenwaffen zu verhandeln.
 
Am 17. September 1982 trat Genscher gemeinsam mit den übrigen "FDP-Bundesministern" zurück. Am 1. Oktober 1982 wurde in einem konstruktiven Mißtrauensvotum der bisherige Oppositionsführer Dr. Helmut Kohl auch vom Großteil der Mitglieder der FDP-Bundestagsfraktion zum Bundeskanzler gewählt. Am 4. Oktober 1982 kehrte Genscher als Außenminister und Vizekanzler in die Bundesregierung zurück.
 
Dieser unter dem Begriff der Bonner Wende bekannt gewordene Regierungswechsel war es, der mich im Alter von 15 Jahren für die Tagespolitik sensibilisiert hatte. Bisher hatte ich mich zwar schon sehr für Geschichte und auch für politische Themen interessiert, aber eben noch eher wenig für die aktuellen politischen Ereignisse. Dies sollte sich ab jetzt ändern.
 
So fand ich am 11. Januar 1984 mit 16 Jahren in die FDP - zum einen als Partei des Liberalismus und zum anderen aufgrund ihres Wahlprogramms anläßlich der Bundestagswahl von 1980.
Der Koalitionswechsel hatte heftige Auseinandersetzungen innerhalb der FDP zur Folge. Die FDP verlor über 20 Prozent ihrer 86.500 Mitglieder. (Zur Zeit sind es rund 54.000.)
 
Beim Bundesparteitag der FDP vom 5. bis 7. November 1982 in Berlin trat der schleswig-holsteinische Landesvorsitzende Uwe Ronneburger - quasi als Vertreter der Gegner der "geistig-moralischen Wende" - gegen Genscher als Parteivorsitzender an.
 
Ronneburger erhielt rund 45 Prozent der Stimmen und unterlag damit nur knapp. Sein Ergebnis und die Wahl von Gerhart Baum zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden führten dazu, daß viele Angehörige und Sympathisanten des Freiburger Kreises der Partei treu blieben, weil sie merkten, dass ihr Einfluß gegenüber dem Schaumburger Kreis nicht so gering wie befürchtet war.
 
Die austretenden Mitglieder wechselten zur SPD, zur am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe gegründeten Partei Die Grünen und zu der am 28. November 1982 in Bochum gegründeten Partei Liberale Demokraten (LD) oder blieben parteilos.
 
Auch mit dieser neuen liberalen Partei hatte ich mich damals beschäftigt. Ich hatte mich dann aber doch für die FDP entschieden. Liberale können sich vor allem in Deutschland - davon bin ich zutiefst überzeugt, auch und gerade mit Blick auf die Geschichte - keine zwei Parteien leisten.
 
Die FDP wurde am 11. und 12. Dezember 1948 in Heppenheim gegründet. Es war nach der Deutschen Fortschrittspartei (1861 bis 1867) der erste Versuch, alle Anhänger der freiheitlichen und freisinnigen Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung des Liberalismus in einer Partei zu vereinen. Immer wieder hatte es auch in der Vergangenheit Abspaltungen - Freie Volkspartei/FVP (1956) und Nationalliberale Aktion/NLA (1970) - gegeben.
 
Ich wollte diesen "Spaltpilz" nicht unterstützen und habe mich daher für das Original, für die FDP entschieden. Sie sollte bis in die Jahre 2011/2012 meine politische Heimat bleiben.
 
Diese Entscheidung wurde mir auch dadurch erleichtert, daß Politiker wie Dr. Hildegard Hamm-Brücher, Gerhart Rudolf Baum und Dr. Burkhard Hirsch in der FDP geblieben sind. Unter den austretenden Mitgliedern befanden sich leider auch der damalige FDP-Generalsekretär und spätere EU-Kommissar Günter Verheugen sowie Ingrid Matthäus-Maier, Helga Schuchardt und Andreas von Schoeler.
 
Ich hätte mir damals von Genscher, dessen politische Motive für den Koalitionswechsel ich durchaus nachvollziehen konnte und befürwortet hatte, auch wenn man trotzdem über die Art und Weise sicher geteilter Meinung sein konnte, mehr Integrationskraft gewünscht, um deutlich zu machen, daß es nicht um eine "SPD-FDP" oder eine "CDU-FDP" ging, sondern um die liberale Partei Deutschlands.
 
Genscher hatte großen Anteil an der europäischen Einigung und am Gelingen der deutschen Wiedervereinigung, über die er 1990 mit dem letzten Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, Markus Meckel, verhandelte. Genscher und Meckel waren die Vertreter der beiden deutschen Staaten bei den Zwei-plus-Vier-Gesprächen mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Diese Gespräche ebneten den Weg zur Deutschen Einheit.
 
Daß Genscher anfänglich den konsequenten Wiedervereinigungsplänen Bundeskanzler Kohls abwartend gegenüber gestanden hatte, habe ich nicht verstanden und ihm auch etwas übel genommen. Letztendlich war der Erfolg aber wohl dem eingespielten Team Kohl/Genscher zu verdanken.
 
Im Spätsommer 1989 erreichte er dann die Ausreiseerlaubnis für diejenigen Bürger der DDR, die in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet waren. Berühmt geworden sind die folgenden Worte: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ... [möglich geworden ist.]" Mit ihnen verkündete er am 30. September 1989 um 18.58 Uhr vom Balkon der Botschaft den etwa 4000 dorthin geflohenen DDR-Bürgern ihre Ausreise per Sonderzug in die Bundesrepublik, die er in langen Verhandlungen mit dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse erreicht hatte.
 
Am 27. April 1992 gab Genscher bekannt, daß er von seinem Amt als Bundesaußenminister zurücktreten werde. Er war zu diesem Zeitpunkt der dienstälteste Außenminister Europas. Am 18. Mai 1992 schied Genscher dann endgültig aus der Bundesregierung aus, der er insgesamt 23 Jahre angehört hatte. Im Anschluß daran wurde Genscher zum Ehrenvorsitzenden der FDP berufen (Bundesparteitag am 2. und 3. Oktober 1992 in Bremen?).
 
Als sein politischer Ziehvater - mit Jürgen W. Möllemann hatte er leider weniger Glück - war er mit Sicherheit sehr stolz, als Dr. Guido Westerwelle in seine Fußstapfen trat und Ende des Jahres 1994 zunächst Generalsekretär, im Jahr 2001 dann Bundesvorsitzender der FDP und im Jahr 2009 dann auch noch Bundesminister des Auswärtigen und Vizekanzler wurde. Leider mußte er seinen tragischen Tod am 18. März 2016 noch erleben, der ihn wohl tief erschüttert hatte. Da war Genscher bereits überwiegend bettlägerig und konnte sein Haus kaum noch verlassen.
 
Genscher und der organisierte Liberalismus gehörten untrennbar zusammen. Bereits am 30. Januar 1946 wurde er Mitglied des Landesverbands Sachsen-Anhalt der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. Seit seiner Übersiedlung am 20. August 1952 über West-Berlin in die Bundesrepublik gehörte er der FDP an.
 
Im Jahr 1954 wurde er zum stellvertretenden Landesvorsitzenden der Jungdemokraten - der damaligen Jugendorganisation der FDP - in Bremen gewählt. Von 1956 bis 1959 war er wissenschaftlicher Assistent der FDP-Bundestagsfraktion in Bonn. Von 1959 bis 1965 war er FDP-Fraktionsgeschäftsführer, gleichzeitig von 1962 bis 1964 auch Bundesgeschäftsführer der FDP - einen Generalsekretär gab es erst seit dem Jahr 1971.
 
Im Jahr 1968 wurde er zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden gewählt. Genscher war von 1965 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestages für den Wahlkreis im Wuppertaler Westen. Er war stets über die Landesliste Nordrhein-Westfalen in den Bundestag eingezogen. Von 1965 bis zu seinem Eintritt in die Regierung Brandt 1969 war er Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion.
 
Dabei war Genscher aufgrund seiner Herkunft aus einem bürgerlich-bäuerlichen und nationalkonservativen Milieu das liberale Gedankengut nicht unbedingt in die Wiege gelegt worden. Vielleicht konnte er aber gerade deshalb zu "Genschman" mit seinem gelben Pullunder als Markenzeichen, zum "ewigen FDP-Vorsitzenden" und auch zum Vorbild für das FDP-Maskottchen Liberalix werden.
 
Der Mensch und Staatsmann Hans-Dietrich Genscher wird fehlen - seiner Familie, seinen Freunden, aber auch unserem Land und dem organisierten Liberalismus. Lange Zeit durfte er die Geschicke der Bundesrepublik, Europas und der Welt mitbestimmen und -gestalten. Dafür gelten ihm Dank, Respekt und Anerkennung. Als Staatsmann und damit als Teil der Geschichte, aber natürlich auch und vor allem in persönlichen Erinnerungen lebt er weiter.
 
Es ist immer schwierig, bei einem solchen Anlaß tröstende Worte zu finden, auch im Falle eines langen und erfüllten Lebens, aber ich spreche seiner Frau, seiner Tochter, seiner ganzen Familie und seinen Freunden meine herzliche Anteilnahme aus und wünsche ihnen viel Kraft und Zuversicht. Die gemeinsamen Erlebnisse kann einem niemand nehmen. Die Zeit heilt keine Wunden; sie kann aber dabei helfen, mit den Wunden weiter leben zu können.
 
Elsdorf/Rheinland, 4. April 2016
 
Mit stillem Gruß
Wolfgang Gerstenhöfer
liberal - freiheitlich und gleichzeitig sozial