Stellungnahme zur Rede von Christian Lindner, die er als Bundesvorsitzender auf dem 73. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP am 23. April 2022 gehalten hat:

Hier finden Sie den Text der Rede.

 

Die Beteiligung an der Regierung und seine Mitgliedschaft in ihr als Bundesminister der Finanzen scheint Christian Lindner gut zu bekommen. Seine Rede ist in weiten Teilen seriös, sachlich, besonnen, fast staatsmännisch. Vielleicht etwas zu viel Lob für "seinen" Kanzler und "seinen" Vizekanzler, wahrscheinlich mußte es sein, um Wogen zu glätten. Ich kann den Inhalten größtenteils zustimmen.

 

Ein paar Haken gibt es aber dennoch:

 

"... das ist ein weiterer, ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität in Zeiten einer Pandemie. Die Pandemie ist nicht vorüber und überwunden, aber ihr Charakter hat sich verändert. Deshalb werden wir weiter Schutz- und Hygienevorschriften benötigen, aber auch Umsicht und Eigenverantwortung im Alltag. Als Finanzminister werde ich auch weiterhin die Bürgertests finanzieren und die Impfung bleibt zentral. Aber darüber hinaus ist eben mehr Miteinander, mehr Normalität möglich. Weil der Charakter der Pandemie sich geändert hat, musste sich auch der Charakter der Bekämpfung der Pandemie verändern. Es konnte niemals das Ziel sein, dass Deutschland die schärfsten und am stärksten in die Freiheit der Menschen eingreifenden Maßnahmen fortsetzt. Wir haben vor der Bundestagswahl für eine Pandemie-Politik geworben, die sich auf wirksame und verhältnismäßige Maßnahmen stützt. Und daran haben wir uns auch in Regierungsverantwortung gebunden gefühlt. Nun gibt es einen anderen Zugang, einen verantwortungsvollen Zugang, der die Überlastung des Gesundheitssystems abwenden will, der aber zugleich mehr Freiheiten im Alltag erlaubt und einen deutlichen Schritt Richtung Normalität kennzeichnet. Dafür sind wir teilweise auch kritisiert worden. Man muss offen sagen: Auch ein Teil unserer Wählerinnen und Wähler war und ist skeptisch gegenüber dieser Herangehensweise. Aber wir haben dafür geworben, weil sie unserer Grundüberzeugung entspricht. In Fragen grundlegender Überzeugungen, in Fragen der Interpretation des Verfassungsrechts, der Bürgerrechte, da kann es keine Orientierung an Umfragen und kurzfristigen Erwägungen geben, sondern da muss man sich von seinen Überzeugungen leiten lassen. Es macht eben einen Unterschied, ob Freie Demokraten regieren oder nicht. Das zeigt sich auch in der Pandemie-Politik. ..."

 

Wenn es nicht so traurig und zum Fremdschämen wäre, dann könnte man über den Spagat lachen, den Lindner in Sachen "Corona-Politik" versucht. So ganz kann oder will er es sich wohl - im Unterschied zu Wolfgang Kubicki - doch nicht mit den Liberalen inner- und außerhalb der FDP verderben.

 

Mit Blick auf die Todesfälle im April 2022 allerdings von einer Normalität zu reden, ist ziemlich zynisch - auch und gerade im Hinblick auf die Todesfälle im April 2020.

Hatten wir in Deutschland die schärfsten und am stärksten in die Freiheit der Menschen eingreifenden Maßnahmen? Nein. Die hatten wir sicher nicht.

 

Nur am Rande: In NRW - mit einer schwarz-gelben Regierungskoalition - hat es Ausgangssperren sogar von 21 Uhr bis 5 Uhr gegeben, noch bevor die sogenannte Bundes-Notbremse in Kraft getreten war, die von der FDP als grundgesetzwidrig kritisiert wurde.

 

Sicher hat man in Österreich nicht ohne Grund, die ab dem 6. März 2022 aufgehobene Maskenpflicht zum 23. März 2022 wieder eingeführt - übrigens gegen den Widerstand der FPÖ.

 

Liberale verstehen Eigenverantwortung und Selbstvorsorge als Ausdruck persönlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Das setzt aber voraus, daß man auch tatsächlich in der Lage dazu ist, eigenverantwortlich zu handeln und für sich selbst vorzusorgen.

 

Wie sicher sind sich die führenden und renommierten Virologen, Infektiologen, Epidemiologen und Immunologen wirklich, daß sich vor allem Menschen mit einem erhöhten Risiko, an den Folgen einer COVID-19-Infektion zu sterben, selbst schützen können?

 

Reicht das Tragen einer FFP2-Maske aus, wenn andere Menschen keine Mund-Nasen-Bedeckung tragen, keinen Abstand halten und nicht geimpft oder genesen sind?

 

Ich weiß es nicht. Wußten es die Freien Demokraten am 18. März 2022?

 

Ich weiß nur, daß man einen Menschen nicht mehr zum Leben erwecken kann, wenn er tot ist.

 

Im Zweifel für die Freiheit. So sehen es Liberale. Wenn es aber um Leben und Tod geht, sollte es für Liberale nach meinem Verständnis keinen Zweifel geben.

 

Dann geht es für Liberale nicht um Überzeugungen, sondern um Fakten, um Wissenschaft, steht das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit über dem Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

 

Nach meiner Überzeugung haben die Freien Demokraten sich - unter Federführung Kubickis  - völlig ohne Not in eine prekäre Lage gebracht.

 

Sie waren so erpicht darauf, AfD-Wähler (zurück) zu gewinnen, daß man - ähnlich wie beim Thema Flüchtlingshilfe - Positionen der AfD und der "Querdenker" übernommen hat, ohne die seit Mitte Oktober 2021 stark steigenden Infektionszahlen zur Kenntnis zu nehmen.

 

Man wollte sich durch die Realitäten nicht von der fixen Idee eines "Freedom Day" abbringen lassen - und ist dafür auch über Leichen gegangen.

 

Das macht mich sehr betroffen und traurig. Das ist nicht meine FDP. Das ist keine liberale FDP.

 

"... Hinsichtlich der materiellen Unterstützung der Bundeswehr gehen wir neue Schritte - mit einem 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Ertüchtigung unserer Verteidigungsfähigkeit. Damit holen wir das auf, was über mindestens 15 Jahre vernachlässigt worden ist. ... Man wolle am Ende nur genau die Zahl der Abgeordneten zur Verfügung stellen, die die Ampel bräuchte, um die Zweidrittelmehrheit zu erreichen. Kein Abgeordneter mehr, so dass alle Abgeordneten der Ampel gezwungen sind, dafür zu votieren. Keine weitere Stimme der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ... Es handelt sich in dieser veränderten geopolitischen Lage um eine Entscheidung, die politisch die Relevanz hat, wie seinerzeit vielleicht die Wiederbewaffnung oder die Entscheidung über den Beitritt zur NATO oder den NATO-Doppelbeschluss. ... sagt der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU keine Stimme mehr zu als die, die sie brauchen. Ich glaube, hier muss die CDU/CSU sich fragen, ob sie mit dieser Vorgehensweise ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht wird. Würde Helmut Kohl in einer Frage von Frieden und Freiheit in Europa in gleicher Weise agieren? ..."

 

Ja, auch Helmut Kohl hätte die sozialliberale Koalition nicht von ihrer staatspolitischen Verantwortung entbunden, und er hat es auch nicht getan. Nicht ohne Grund wurde die sozialliberale Koalition am 17. September 1982 beendet und von einer Koalition von CDU/CSU und FDP abgelöst. Damals ging es unter anderem um den sogenannten NATO-Doppelbeschluß. Das war allerdings nach 13 Jahren und nicht schon nach vier Monaten.

 

Nur am Rande: Die FDP war vom 28. Oktober 2009 bis zum 17. Dezember 2013 an der Bundesregierung beteiligt. Was hat sie in dieser Zeit für die Bundeswehr und unsere Verteidigungsfähigkeit getan?

 

Wenn Lindner Kohl ins Spiel bringt, der sich nicht mehr äußern kann, dann frage ich:

 

Hätte Guido Westerwelle Menschenleben riskiert, um Wähler vom rechten Rand anzuwerben oder nicht wieder zu verlieren?

 

Ich kann es mir - vor allem nach seiner Erkrankung - beim besten Willen nicht vorstellen und gebe gern zu, daß ich es mir auch nicht vorstellen möchte.

 

"... Die Zeiten ändern wir, das schreiben wir über unseren Parteitag, ..."

 

Schön wäre wieder eine liberale FDP, die sich der Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erinnert - nicht mit dem Slogan "Von hier aus weiter", sondern nach dem Motto "Von hier aus liberal".

 

Die liberale Freiheit hat nichts mit Anarchie oder Anomie zu tun und bedeutet auch nicht Laissez-faire. Die Freiheit jedes Menschen findet in der Freiheit jedes anderen Menschen ihre natürliche Grenze.

 

Deshalb kennen Liberale durchaus auch Pflichten und Verbote. Es heißt im Zweifel für die Freiheit, aber nicht ausschließlich für die Freiheit, begleitet wird sie zudem von den Geboten der Gleichheit und der Brüderlichkeit, umfaßt daher auch immer Verantwortung - für sich und seine Mitmenschen. Freiheit und Verantwortung sind für Liberale zwei Seiten einer Medaille.

 

Ich kann jedem Liberalen in diesem Zusammenhang das Buch "Freiheit - ein Appell" von Gerhart Baum und das Buch "Ich seh das so" von Heide Schmidt sehr empfehlen.

 

Link zu Informationen über den 73. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP

Stellungnahme zur Rede von Bijan Djir-Sarai, die er als Generalsekretär auf dem 73. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP am 24. April 2022 gehalten hat:

Hier finden Sie den Text der Rede.

 

Der neu gewählte Generalsekretär der FDP nutzt in seiner Rede hin und wieder das Attribut liberal. Das ist überraschend, paßt aber zur Rede seines Bundesvorsitzenden. Man merkt anscheinend, daß man die Liberalen nach und nach verprellt.

 

Es genügt aber nicht, das Adjektiv liberal zu verwenden, in der Satzung den Satz "Die FDP ist die liberale Partei in Deutschland." nicht zu ändern oder sich auf die Liberalen Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher oder Guido Westerwelle zu berufen, um noch oder wieder eine oder gar die liberale Partei zu sein. Das Image folgt immer den Fakten, und diese Fakten sprechen leider eine andere Sprache.

 

"... es sind wir, die Freien Demokraten, die einzige liberale Partei in Deutschland, die den Wert der Freiheit zum politischen Grundprinzip erhoben hat. ..."

 

"... Wir wollen als einzige liberale Kraft in Deutschland unseren Teil zur Modernisierung und Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft beitragen. ..."

 

".... auf diese Herausforderung zu reagieren und mit unserem Leitantrag einmal mehr unseren liberalen Kompass auszurichten. ..."

 

Man hat ganz bewußt und sehr konsequent auf den Zusatz "Die Liberalen" verzichtet, hat ihn beseitigt. Wurden bis dahin die Mitglieder der FDP, die Freidemokraten als Liberale und auch schon mal synonym als Freie Demokraten bezeichnet, gab es nun keine Liberalen mehr. Aus den Freidemokraten wurden ausschließlich Freie Demokraten.

 

Das war ein sehr deutliches Signal. Ein Signal, daß im weiteren Verlauf auch durch die entsprechenden Aussagen und Forderungen führender Freier Demokraten untermauert wurde.

 

Viel ist in der Rede von Bijan Djir-Sarai von Freiheit die Rede. Der Liberalismus kennt aber drei Grundwerte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

 

"... Das ist in keiner Weise ein pervertierter Freiheitsbegriff und erst recht kein Ausdruck eines maximalen Egoismus. Das, meine Damen und Herren, ist Rechtsstaatlichkeit. ..."

 

Hier irrt der neue Generalsekretär gewaltig. Der liberale Freiheitsbegriff umfaßt auch immer Verantwortung - für sich und seine Mitmenschen. Freiheit und Verantwortung sind für Liberale zwei Seiten einer Medaille. Rücksichtslosigkeit ist nicht liberal - und auch nicht rechtsstaatlich.

 

Die Freien Demokraten haben nun eher die Freiheit im Sinne der völkischen und nationalistischen Freiheitlichen und der "Querdenker" für sich und damit für die FDP entdeckt.

 

"... So unbequem, so unübersichtlich oder sogar auch hoffnungslos die Zeiten, in denen wir leben, auch erscheinen mögen – der Einsatz für Freiheit, Bürgerrechte und Menschenrechte ist immer die richtige Antwort. ..."

 

Ist das von Djir-Sarai glaubwürdig? Kann man ihm das abnehmen? Wie war das mit seiner Kritik an Kapitänin Carola Rackete?

 

"... kritisierte er die Kapitänin Carola Rackete als außenpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und rechtfertigte deren Festnahme: Diese hatte am 12. Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 insgesamt 53 aus Libyen kommende Flüchtlinge bzw. Migranten im Mittelmeer aus Seenot gerettet und lief nach dem Warten auf eine Genehmigung in der Nacht zum 29. Juni trotz eines Verbots durch italienische Behörden den Hafen der Insel Lampedusa an. Er argumentierte, dass Rechtsstaatlichkeit 'außerordentlich gefährdet' sei, 'wenn unter Berufung auf gesinnungsethische Motive Gesetze gebrochen werden'."

 

"Gesinnungsethische Motive"? Was soll das sein? Ging es nicht um Menschenrechte, die Bijan Djir-Sarai angeblich so wichtig sind? War es nicht eher so, daß das Verbot der italienischen Behörden gegen die Rechtsstaatlichkeit verstoßen hat? Hätte er die 53 aus Libyen kommenden Flüchtlinge bzw. Migranten lieber im Mittelmeer ertrinken lassen?

 

Ich habe auf diese Fragen übrigens bis heute keine Antwort bekommen, obgleich ich sie bereits mehrfach gestellt habe.

 

"... Guido hat gesagt: 'Die Freiheit hat eine Tochter, ihr Name ist Toleranz. Und die Freiheit hat einen Sohn, sein Name ist Respekt.' ..."

 

Ich ergänze: Die Freiheit hat auch noch zwei Schwestern, ihre Namen sind Gleichheit und Brüderlichkeit. Sie dürfen nie vergessen werden. Denn sie gehören untrennbar zusammen - für Liberale.