E-Mail vom 18.12.2011

Sehr geehrter Herr Dr. Rösler,
 
Ihren Brief habe ich per E-Mail erhalten und seinen Inhalt zur Kenntnis genommen. Für Ihre guten Wünsche zur Weihnacht und zum Jahreswechsel danke ich Ihnen.
 
Lassen Sie mich hiermit auf ihn antworten. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
 
Seit inzwischen fast 30 Jahren ist die FDP meine politische Heimat. Als historisch und politisch sehr interessierter Mensch habe ich mich frühzeitig mit den verschiedenen Weltanschauungen beschäftigt und mich sehr bald zum Liberalismus bekannt. Das konstruktive Mißtrauensvotum, das Herrn Dr. Helmut Kohl zum Bundeskanzler gemacht hat, war für mich der Auslöser, mich für ein parteipolitisches Engagement zu entscheiden.
 
Nach Durchsicht der Wahlprogramme anläßlich der Bundestagswahl von 1980 habe ich mich dann für die FDP entschieden.
 
Herr Dr. Guido Westerwelle, mit dem mich gemeinsame JuLi-Zeiten verbinden, hat damit begonnen, deutlich zu machen, daß der Liberalismus auch und gerade sozial ist. Dies hat nach meinem Empfinden vorher kein Bundesvorsitzender der FDP so deutlich in Angriff genommen. Leider hat er sich dann durch die Hartz-IV-Diskussion irritieren lassen - das ist zumindest mein Eindruck. Hier muß mit eindeutigen und unmißverständlichen Botschaften wieder Land gewonnen werden.
 
Seit den Koalitionsverhandlungen mit CDU/CSU nach der jüngsten - für die FDP sehr erfolgreichen - Bundestagswahl, spätestens seit Beginn des Jahres 2010 haben sich führende und maßgeblich an den Entscheidungen beteiligte Vertreter der FDP nach meiner Überzeugung immer weiter von den Grundsätzen des Liberalismus, immer weiter von den Zielen und Forderungen der FDP entfernt, haben sich von CDU/CSU immer wieder vorführen lassen, um letztendlich klein beizugeben.
 
Sehr gern wäre ich auch in Zukunft (wieder) Botschafter liberaler Politik. Die derzeitige Führung der FDP macht es mir aber nicht gerade leicht - mit ihrem Zick-Zack-Kurs, ihren Rollen rückwärts und ihrer Unberechenbarkeit - sei es in der Steuer-, in der Gesundheits-, in der Energie-, in der Wirtschafts- oder in der Innen- und Rechtspolitik.
 
Sicher muß man auf verändernde Situationen reagieren (können) - wie die Banken-, Finanz- und letztendlich Wirtschaftskrise - und kann nicht stur an einem einmal gefaßten Beschluß festhalten, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Aber diese Achterbahnfahrt, die wir um das Steuersystem veranstalten bzw. veranstaltet haben, ist für niemanden nachvollziehbar und nur noch peinlich. Da frage ich mich, warum Guido auf sein Amt als Bundesvorsitzender verzichten mußte? Da hätte er auch gut und gern weitermachen können.

Wenn es den Repräsentanten der FDP - gemeinsam mit den Koalitionspartnern CDU und CSU - nicht gelingt, auf der Grundlage des gemeinsam ge- und beschlossenen Koalitionsvertrags mit einer Stimme zu sprechen, dann sehe ich schwarz oder besser orange.
Selbst die Religionsfreiheit läßt die FDP inzwischen aushöhlen und findet das auch noch gut und richtig. Bitte vergleichen Sie den angehängten E-Mail-Wechsel. Eine Antwort liegt mir bisher nicht vor.
 
Damit machen Sie die FDP-Mitglieder vor Ort, in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis und bei ihren Kollegen unglaubwürdig. Viele schämen sich inzwischen, Mitglied der FDP zu sein, und behalten es lieber für sich.
 
Kaum war Herr Lindner zurückgetreten, ziehen Sie einen Nachfolger aus dem Hut, als ob Sie auf den Rücktritt nur gewartet hätten. Ein kommissarischer Generalsekretär, gegen den wegen Fahrerflucht ermittelt wird. Das ist eine kommunikative Glanzleistung in der aktuellen Situation der FDP.
 
Auch auf die Gefahr hin, daß Sie es mir übel nehmen, aber manchmal kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, als wollte der eine oder andere in der FDP-Führung die FDP überflüssig machen. Dabei ist man inzwischen sehr erfolgreich.
 
Hatten Sie nicht am Freitagmittag den Antrag des Bundesvorstands noch als proeuropäisch und damit indirekt den Antrag unter anderem von Herrn Schäffler und damit einen nicht gerade kleinen Teil der FDP-Mitglieder als antieuropäisch bezeichnet? Oder wurden Sie - mal wieder - von den Medien falsch zitiert? Oder haben Sie erst später gemerkt oder wurden von ihren Kommunikationsexperten auf Ihren Fauxpas aufmerksam gemacht?
 
Ich muß gestehen, daß ich es sehr bereue, letztendlich auch zu denen gehört zu haben, die Guido Westerwelle zum Rücktritt geraten haben.
 
Dabei hatte ich sehr viel Hoffnung in Sie gesetzt, als Sie zum ersten liberalen Bundesminister für Gesundheit ernannt worden sind. Ich hatte zwar ursprünglich eher mit Herrn Daniel Bahr gerechnet, aber Sie brachten eine gewisse Erfahrung als Minister mit.
 
Endlich - hatte ich mir gedacht - bekommen wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrags Schritt für Schritt eine liberale und damit zukunftsorientierte Gesundheitsreform. Und? Fehlanzeige!
 
Da wäre es wohl doch besser gewesen, wenn wir wieder das Bundesministerium der Finanzen besetzt hätten. Vielleicht wäre Herr Hermann Otto Solms in Sachen Steuerreform und Bürgergeld schon weiter. Aber ich gebe zu, das ist reine Spekulation und Wunschdenken.
 
Gut für Sie, daß sich rechtzeitig die Möglichkeit ergeben hat, in das Amt des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie zu wechseln und dann auch noch Vizekanzler zu werden.
 
Und dann verprellt Herr Daniel Bahr - für meine Begriffe völlig ohne Not - die Ärzte, vor allem die Fachärzte mit dem Thema Wartezeiten. Was sollte das? Wer arbeitet denn freiwillig länger, ohne dafür mehr Geld zu bekommen?  Wollen wir jetzt die Zwangsarbeit für freiberuflich tätige Ärzte einführen? Ist das liberal?
 
Ich wünsche Ihnen und erwarte von Ihnen, daß Sie allen Aspekten des Liberalismus wieder Raum geben. Dazu müssen Sie wissen, daß ich ein absoluter Gegner irgendwelcher Bindestrichliberalismen bin. Es mag unterschiedliche Schwerpunkte geben, letztendlich ist der Liberalismus für mich aber unteilbar.
 
Ich denke, gerade im Rahmen einer Koalition muß man immer wieder deutlich machen, was man machen würde, wenn man selbst eine absolute Mehrheit hätte, und dann was man tatsächlich mit dem jeweiligen Koalitionspartner umsetzen will bzw. kann. Oder für den Fall, daß es noch keine Einigung mit dem Koalitionspartner gegeben hat, was man meint, mit den Partnern umsetzen zu können.

Dabei ist es wesentlich, den eigenen Standpunkt immer wieder zu wiederholen. Fakt ist, daß wenn wir unsere eigene Position schon lange nicht mehr hören können, hat sie erst einen Bruchteil unserer möglichen Wähler erreicht. Und es ist wichtig, die Forderungen so wenig zu verändern wie möglich und auch möglichst immer die gleichen Worte, Begriffe und Formulierungen zu verwenden.
Lassen Sie sich das von jemandem raten, der sich seit mehr als 20 Jahren hauptberuflich mit Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit beschäftigt.
 
Das Wählerpotential für die Idee des Liberalismus, für die Idee der Freiheit liegt nach meiner Einschätzung bei mindestens 20 Prozent. Es ist ein Skandal, daß wir Umfragewerte von nur zwei Prozent hatten bzw. haben.

Wir haben mit Blick auf die Piratenpartei Deutschland zwei Möglichkeiten: Entweder wird es nach fast 80 Jahren wieder zwei liberale Parteien in Deutschland geben oder es gelingt, die Basis und damit auch die Programmatik der FDP zu erweitern, vielleicht auch "nur" die gesamte Programmatik ernst zu nehmen und immer wieder publik zu machen.
 
Ich beobachte diese Partei seit ihrer Gründung mehr oder weniger - damals habe ich mich schon gefragt, warum diese Menschen sich nicht für die FDP entscheiden - und seit der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus sehr intensiv und aus der Nähe. Ich bin davon überzeugt, daß die Piraten in ihrer weit überwiegenden Mehrheit Liberale oder Liberale in spe sind. Sie sind ein Teil der Zukunft des organisierten Liberalismus in Deutschland - in bzw. mit der oder gegen die FDP. Davon bin ich überzeugt.
 
Bitte setzen Sie die liberalen Positionen im mit CDU/CSU vereinbarten Koalitionsvertrag zügig um und machen Sie mit Hilfe Ihres (neuen) Generalsekretärs immer wieder deutlich, was liberale Programmatik und was notwendige Kompromisse in einer Koalition sind.
 
Und machen Sie endlich deutlich, daß liberale Marktwirtschaft nichts, aber auch gar nichts mit Raubtier- oder Neokapitalismus (gern wird hier auch völlig falsch von Neoliberalismus gesprochen) oder mit Manchesterliberalismus zu tun hat und - wenn sie richtig umgesetzt wird - immer sozial ist.
 
Nehmen Sie in Ihrer "neuen" Funktion als Bundeswirtschaftsminister auch die Banken in die Pflicht, damit zum einen so etwas wie die Bankenkrise der vergangenen Jahre sich nicht wiederholen kann und zum anderen die Finanzbranche ihrer Verantwortung gerecht wird. Hier ist leider viel zu lange der Eindruck entstanden, daß sich sehr gut bezahlte Bankmanager zu Lasten der Steuerzahler (wieder) eine goldene Nase verdienen, nichts aus der Krise gelernt haben und munter weiter machen. Das ist sicher nicht liberal. Freiheit in Verantwortung, Verantwortung in Freiheit, Freiheit und Verantwortung oder so ähnlich war das doch oder irre ich mich?
 
Es ist übrigens nach meiner Überzeugung auch nicht liberal, daß - solange wir das derzeitige Steuersystem mit seinen nach Einkommenshöhe gestaffelten Steuersätzen haben - ab einem Jahreseinkommen von rund 53.000 Euro 42 Prozent Steuern bezahlt werden müssen und es keine weiteren Steuersätze gibt.
 
Verstehen Sie mich nicht falsch. Nicht daß ich dieses Steuersystem befürworten würde, aber es kann doch nicht sein, daß es zwischen 8.000 Euro und 53.000 Euro eine Staffelung gibt und es dann nicht weiter geht. 53.000 Euro pro Jahr ist sicher nicht wenig, aber gehört man damit wirklich schon zu den Spitzenverdienern? Da stimmt doch etwas nicht.
 
Ich persönlich würde ein Steuersystem befürworten, daß ab einem bestimmten Einkommen (=Grundfreibetrag/Bürgergeld?) einen Prozentsatz vorsieht. Damit trägt jeder nach seiner Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben bei. Dann zahlt aber auch jeder diesen Prozentsatz - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
 
Für Fragen und nähere Einzelheiten stehe ich Ihnen und Ihren persönlichen Mitarbeitern bei Interesse selbstverständlich gern zur Verfügung.
 
Mit freundlich-liberalen Grüßen und den besten Wünschen im Interesse der liberalen Sache nach Berlin und Hannover
Ihr Wolfgang Gerstenhöfer