E-Mail an Christian Lindner

Gesendet: Montag, 11. Dezember 2023 um 11:04 Uhr

 

Von: "Wolfgang Gerstenhöfer" <wolfgang.gerstenhoefer@gmx.de>

 

An: "Christian Lindner" <christian.lindner@bundestag.de>

 

Cc: info@gerhart-baum.de

 

Betreff: Ihr Buch "Schattenjahre - Die Rückkehr des politischen Liberalismus" und 75 Jahre FDP

 

 

Sehr geehrter Herr Lindner,

 

nun habe ich Ihnen schon längere Zeit nicht mehr aufgrund Ihrer Aussagen geschrieben, da ich es irgendwann nicht mehr als zielführend empfunden habe. Belästigen wollte und will ich Sie nicht. Ich habe es Ihnen immer sehr hoch angerechnet, daß Sie mir fast immer geantwortet haben. Das ist nicht selbstverständlich.

 

Nur auf Ihrem Facebook-Profil bin ich dem "Team Lindner" (TL) und Ihnen wohl irgendwann zu lästig, zu unbequem geworden, so daß Sie nicht mehr mit mir diskutieren wollten und mich kurzerhand ausgeschlossen haben. So sei es. Egal.

 

Sie wissen, daß ich es Ihnen sehr übel nehme, was Sie mit und aus der FDP seit dem 22. September 2013 und vor allem seit dem 6. Januar 2015 gemacht haben und haben machen lassen.

 

Nun habe ich gerade Ihr Buch "Schattenjahre - Die Rückkehr des politischen Liberalismus" aus dem Jahr 2017 gelesen. Es hat mich sehr überrascht und irritiert.

 

Ihre Definition des politischen Liberalismus und der Philosophie der FDP hat mir - auch im Hinblick auf Klima- und Umweltschutz - sehr gut gefallen. Ich kann Ihnen weitestgehend zustimmen, auch wenn ich im Unterschied zu Ihnen das Konzept der negativen Einkommensteuer, des liberalen Bürgergelds, des (bedingungslosen) Grundeinkommens nach wie vor für eine liberale Idee, für eine liberale Forderung halte. Kein (gesunder) Mensch läßt sich mit einer Prämie stilllegen. Jeder Mensch sucht und braucht Anerkennung und Wertschätzung aufgrund eigener Leistungen. Es geht um Menschenwürde und Augenhöhe in der liberalen und damit sozialen und ökologischen Marktwirtschaft.

 

So oder zumindest so ähnlich wie Sie hätte ich es auch schreiben können. Von Ihnen habe ich es so nicht erwartet, wenn ich die vergangenen zehn Jahre Revue passieren lasse.

 

Ich frage mich daher, warum Sie dies nicht umgesetzt haben. Was hat sie gehindert? Was ist geschehen? Ich habe leider den Eindruck, daß hier Ihr Selbstbild sehr deutlich vom Fremdbild abweicht. Sie schreiben selbst, daß Sie aus der FDP keine "AfD light" machen oder machen lassen wollten. Warum haben Sie es dann getan, zugelassen?

 

Ihren Ausführungen zum Zusatz "Die Liberalen" und zum Namen "Liberaldemokratische Partei" muß ich allerdings vehement widersprechen. Dazu liegen mir andere Informationen vor. Der Zusatz "Die Liberalen" wurde nicht erst im Jahr 1982 eingeführt, es war auch nicht einfach eine Idee einer Kampagne für einen Wahlkampf. Es hatte sehr gute, sehr grundsätzliche Gründe. Und es ist nach meinem Kenntnisstand auch nicht richtig, daß die Gründergeneration um Theodor Heuss den Namen "Freie Demokratische Partei" bevorzugt hätte - ganz im Gegenteil.

 

Sie haben mit diesen Veränderungen deutliche Signale gesetzt - und zwar nach rechts, weg vom Liberalismus. Es war kein Bruch mit der Vergangenheit, sondern ein Sprung in die FDP der 1950er und 1960er Jahre.

 

Ihre diversen Mitstreiter und Sie haben insbesondere ab dem Herbst 2015 immer wieder mit zweideutigen, öfter auch mit eindeutigen Aussagen, Botschaften und Forderungen am rechten Rand gefischt, altbekannte Vorurteile gegenüber der FDP verstärkt.

 

Warum? Wie paßt das zu Ihren Überzeugungen, die Sie in Ihrem Buch ausdrücken?

 

Ich verstehe es nicht. Sie wissen auch, daß ich in den Jahren 2010 und 2011 sehr große Hoffnungen in Sie gesetzt hatte, als sie an der Seite von Guido Generalsekretär waren, gerade mit Blick auf Ihr Verhalten während der "Hartz-IV-Debatte", in der Guido ganz bewußt mißverstanden wurde, auch wenn ich von Ihrer Formulierung "mitfühlender Liberalismus" nichts gehalten habe, weil gelebter, ganzheitlich und konsequent angewandter Liberalismus für mich per se sozial ist.

 

Das Vorhaben, einen Leitbildprozeß für eine politische Partei zu initiieren und durchzuführen, ist sicher mutig, innovativ und grundsätzlich auch sinnvoll.

 

Anspruch und Wirklichkeit klaffen aber nach meinem Eindruck sehr weit auseinander. Image folgt Fakten. Ein (neues) Leitbild, ein neues visuelles Erscheinungsbild alleine genügen nicht, um das Image in die gewünschte Richtung zu verändern. Was war die gewünschte Richtung?

 

Sie haben mit Ihren Maßnahmen das Image der FDP grundlegend verändert, leider nicht in Richtung Liberalismus, wie Sie ihn selbst in Ihrem Buch beschrieben haben. Freie Demokraten statt Liberale und nicht mehr als Synonym für Liberale. Freie Demokraten, Freiheitliche Demokraten. Freiheitliche ... Freiheitliche - eine bunte Mischung aus Deutschnationalen, Kapitalisten und Libertären.

 

Ich selbst war maßgeblich an der Entwicklung eines neuen Erscheinungsbilds einschließlich eines neuen Logos der DKV Deutsche Krankenversicherung AG im Jahr 2002 beteiligt. Ein Unternehmen, das zu diesem Zeitpunkt auf 75 Jahre zurückschauen konnte. Auch da ging es darum, einen Imagewechsel deutlich zu machen, ohne die Unternehmensgeschichte und Tradition zu verleugnen, neue Kunden zu gewinnen, ohne langjährige Kunden zu verprellen.

 

Mit Unterstützung der Berliner Agentur MetaDesign wurde in einem Workshop die Markenpyramide der DKV erarbeitet, in der deutlich wird, was die DKV auszeichnet und welches ihre besonderen Eigenschaften sind. Dabei half auch "Der Genetische Code der Marke®" vom Institut für Markentechnik in Genf, der bereits im Jahr 2001 für die DKV entwickelt worden war. Diese Markenpyramide, diese Vision von der Marke DKV bildete dann die Grundlage für ein neues Logo und ein neues Corporate Design.

 

Lassen Sie mich noch das eine oder andere Beispiel aus Ihrem Buch bringen:

 

Sie schreiben, daß die neue FDP Bildung ins Zentrum der Politik gestellt hat. Wie ist das mit der Amtsführung und den Arbeitsergebnissen von Yvonne Gebauer zu vereinbaren, die immerhin vom 30. Juni 2017 bis zum 29. Juni 2022 Ministerin für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen war? Kommen Sie mir bitte nicht mit den Folgen der COVID-19-Pandemie, die von Ihrer FDP meines Erachtens nie wirklich ernst genommen wurde.

 

Warum schreiben Sie von Chancengerechtigkeit - ein politischer Begriff der Christdemokraten - und nicht mehr von Chancengleichheit? Warum loben Sie die Freiburger Thesen, ignorieren aber die Parole "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit"?

 

In Ihrem Kapitel Flüchtlingsfrage werden Sie schon deutlicher. Realistischer? Ehrlicher?

 

Sie schreiben, daß die Bundesregierung das Dublin-Abkommen einseitig ausgesetzt, gar aufgehoben habe. Stimmt das? Wurde es wirklich ausgesetzt, aufgehoben oder hat man nicht nur darin vorgesehene Möglichkeiten genutzt?

 

Leider haben Sie mir nie auf meine Frage geantwortet, wie Sie sich anstelle von Angela Merkel als Bundeskanzler am 4. September 2015 verhalten hätten, und bleiben diese Antwort auch in Ihrem Buch schuldig.

 

Beim Thema Bildung kritisieren Sie den Föderalismus - zu Recht. Beim Thema Flüchtlinge kritisieren Sie aber ausschließlich die Bundesregierung, den Bund. War und ist aber nicht auch in diesem Bereich der Föderalismus ein Problem? Betraf und betrifft das Organisationsversagen nicht vor allem die Länder, die Bezirke, die Kreise und die Gemeinden? Wollen wir "als starkes und zivilisiertes Land" deshalb Menschen in Not nicht helfen?

 

Positiv interessant ist, daß Sie in Ihrem Buch noch zwischen Asylbewerbern, Kriegsflüchtlingen und Einwanderern differenzieren. Warum hat Ihre FDP damit aufgehört? Mittlerweile ist nur noch von Migration die Rede.

 

Sie wollen sich angeblich nicht auf eine Stufe mit der AfD begeben. Warum machen es die Freien Demokraten dann mit entsprechenden Äußerungen und Formulierungen? Soll das tatsächlich nur Unbeholfenheit oder Naivität sein? Sehen Sie es mir bitte nach, wenn ich das nicht glauben kann. Gerade Wolfgang Kubicki, der mir als "Enfant terrible" der alten FDP durchaus mal sympathisch gewesen ist, hat die Kommunikationsstrategie der AfD inzwischen meisterhaft kopiert.

 

Ich fürchte leider, daß Sie Gerhard Papke ideologisch näher sind, als es Ihnen selbst lieb ist und Sie sich eingestehen wollen. Die Motivation mag - auch mit Blick auf die AfD - verschieden sein, die Zielsetzung bleibt aber sehr ähnlich, und die Angst vor einer Überfremdung und Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Fremden waren und sind auch in der FDP zu Hause.

 

Übrigens hat sich diese latent vorhandene Tendenz in der FDP auch schon bei dem sogenannten Asylkompromiß vom 6. Dezember 1992 gezeigt. Da waren Sie 13 und ich 25 Jahre alt, und ich seit fast acht Jahren Mitglied der FDP.

 

War es nicht die FDP-Bundestagsabgeordnete Katja Adler, die am 3. Januar 2023 noch in einem Tweet Folgendes geschrieben hat? "Und wieder wird jeder Gedanke an eine kulturelle Überfremdung fast schon reflexhaft in die rechte, gar radikale Ecke geschoben. Ein Problem, das dem eigentlichen Problem verfehlter Migrationspolitik in nichts nachsteht. #Silvester2022"

 

Daß sie diese Meinungsäußerung kurze Zeit später wieder gelöscht und für die Verwendung des Begriffs Überfremdung um Entschuldigung gebeten hat, ändert nichts an dem Gedankengut, an der Gesinnung. Aus welcher anderen Ecke sollte dies denn kommen? Es ist die rechte Ecke.

 

So ähnlich denken und äußern sich wohl auch Nicole Bauer, Ingo Bodtke, Karlheinz Busen, Anikó Glogowski-Merten, Reginald Hanke, Gero Hocker, Carina Konrad, Lars Lindemann, Oliver Luksic, Till Mansmann, Christoph Meyer, Frank Müller-Rosentritt, Volker Redder, Christian Sauter, Nico Tippelt und Gerald Ullrich, alles Mitglieder der Fraktion der Freien Demokraten im Deutschen Bundestag.

 

Sie beklagen, daß die CDU auf ihre liberalen Wurzeln verwiesen hat, die sie bekanntlich hat und mit Namen wie Ludwig Erhard, Gustav Heinemann, Ernst Lemmer oder Richard von Weizsäcker verbunden sind, daß sich die Partei "Bündnis 90/Die Grünen" und die SPD als sozialliberal darstellen und Sahra Wagenknecht Erhard für ihre Partei [Die Linke] kapern wollte. "Freiheit statt Kapitalismus" wäre übrigens ein gutes Motto für einen Bundesparteitag einer liberalen FDP.

 

Waren es aber nicht Sie, der mit dem Verzicht auf die Unterzeile, den Zusatz "Die Liberalen" und dem Vermeiden des Begriffs Liberalismus und des Adjektivs liberal dies erst ermöglicht, es begünstigt hat? Sie haben doch die Lücke erst so richtig geschaffen, die dann andere auszufüllen versucht haben.

 

Statt den Begriff Liberalismus selbstbewußt zu besetzen, wieder konsequent mit Inhalten zu füllen und überzeugend zu verteidigen, haben Sie ihn aufgegeben, anderen überlassen.

 

Die neue FDP ist nicht mehr die liberale Partei in Deutschland, auch wenn es noch in ihrer Satzung steht. Sie hatten die einmalige Chance, aus der FDP (wieder) eine und damit die Liberale Partei Deutschlands zu machen. Diese Chance haben Sie nach dem 22. September 2013 verspielt. Warum? Ich verstehe es nicht - und nach der Lektüre Ihres Buches leider noch weniger ...

 

Nur so am Rande: Ich halte beim Thema Organspende die Widerspruchslösung für liberal. Es geht um Leben und Tod. Sich dem Thema nicht zu stellen, es einfach zu ignorieren, hat mit der liberalen Verantwortung für sich und andere nichts zu tun.

 

Leider hat man auch und gerade im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie gesehen, daß die neue FDP nicht mehr viel von dieser Verantwortung hält, die immer mit Freiheit in liberalem Sinne verbunden ist. Dies mußte auch Gerhart Baum, der Grandseigneur des (deutschen) Liberalismus, seiner Partei ins Stammbuch schreiben, der er immer die Treue gehalten hat und hält.

 

Daß es Sie verwundert hat, daß er dies getan und vermeintlich weniger konsequent mit individuellen Freiheitsrechten argumentiert hat, zeigt, daß Sie die liberalen Grundwerte Gleichheit und Brüderlichkeit ausblenden, aus denen sich Verantwortungsbewußtsein, Rücksichtnahme und gleiche Rechte für alle Menschen ergeben, auch wenn sie zu den sogenannten vulnerablen Gruppen gehören. Sie vertreten nicht (mehr) den liberalen Begriff von Freiheit, sondern den Freiheitsbegriff der Freiheitlichen. Und das sind keine Liberalen.

 

Da helfen auch keine Unvereinbarkeitsbeschlüsse im Hinblick auf AfD und Pegida und keine Verweigerung von Gesprächen mit Vertretern der Partei "Allianz für Fortschritt und Aufbruch", jetzt "Wir Bürger".

 

Nehmen Sie Ihren Parteifreund Thomas L. Kemmerich und sein Verhältnis zu "Querdenkern", aber auch zur AfD und der rechten Szene in Thüringen sowie sein gestörtes Verhältnis zu den Grünen. Schauen Sie sich die Reaktionen der Wähler und teilweise auch Mitglieder, die Sie in den vergangenen Jahren für die neue FDP gewonnen haben, auf Ihre Politik im Rahmen der sozialliberalen Ampelkoalition an. Lesen Sie deren Kommentare in den sozialen Medien zu den Beiträgen Ihrer Abgeordneten. Mir kommt da eine Textzeile aus der "Hymne" der ehemaligen Deutschen Volksunion in den Sinn: "Niemals werden wir uns beugen einer roten Diktatur." Halten Sie diese Menschen für liberal?

 

Auch der Wechsel der beiden ehemaligen Bundesvorsitzenden der Piratenpartei, Sebastian Nerz und Bernd Schlömer, im Oktober 2015 zur neuen FDP änderte nichts an deren Positionierung und Außendarstellung. Ich selbst hatte in den Jahren 2011 und 2012 gewisse Hoffnungen auf diese Partei und ihren Einfluß auf "meine" FDP gesetzt. Im Kölner Stadt-Anzeiger hieß es dazu: "Ein Mann, zwei Parteibücher". Da sich die FDP in Richtung einer Art von rechtsliberaler Deutschen Volkspartei (DVP) entwickelte hatte, hoffte ich auf eine Piratenpartei als eine Art von linksliberaler Deutscher Demokratischer Partei (DDP) und eine Fusion in der Zukunft zu einer FDP oder besser einer LDP, wie sie bei ihrer Gründung eigentlich werden sollte.

 

Einige "Piraten" haben sich auch an der Gründung der Partei "Neue Liberale", zuletzt "Die Sozialliberalen", am 28. September 2014 beteiligt. Für mich kamen weder diese erneute Abspaltung von der FDP noch Ihre neue FDP in Frage, wie für mich im Jahr 1983 die am 28. November 1982 gegründete Partei "Liberale Demokraten" keine Alternative zur F.D.P. gewesen ist.

 

Sehr aufschlußreich war, wie Sie gegenüber einer Journalistin das Parteitagsmotto "Beta-Republik" rechtfertigt haben. Es ging um Aufmerksamkeit. Daran merkt man, daß Sie sich frühzeitig mit Werbung befaßt haben. Es geht aber in der Politik - nach meinem Verständnis - nicht um Werbung, zumindest nicht primär, sondern um Kommunikation, um politische Kommunikation.

 

Populismus statt Liberalismus und Marketing statt Politik werden der FDP in unserer Parteienlandschaft nicht nachhaltig den Platz verschaffen, der ihr zusteht und den sie im Interesse unseres Landes und seiner Bürger einnehmen muß.

 

Noch einmal zurück zur Beta-Republik. Sie wollten damit eine Botschaft senden. Das glaube ich Ihnen gern. Sie mag in bestimmten Nischen auch so angekommen sein, wie Sie sie gemeint haben.

 

Es hätte nach meiner Überzeugung in den vergangenen zehn Jahren aber in erster Linie darum gehen sollen, Liberale anzusprechen und zu gewinnen, die die FDP noch nicht oder nicht mehr erreicht hat, und nicht darum, Liberale zu vertreiben oder gar durch Freiheitliche zu ersetzen. Das haben Sie erreicht, ob Sie es nun wollten oder nicht.

 

Es spricht durchaus für Sie, daß Sie sich der Menschen annehmen woll(t)en, die die Mitte unserer Gesellschaft bilden und die Stütze unseres Gemeinwesens sind. Das haben wir mit Guido auch getan. In meinem Wahlbrief, den ich in meinem Wahlbezirk (Gemeinderatswahl) verteilt habe, hieß es: "Der Mensch steht im Mittelpunkt liberaler Politik. Wir wollen die Menschen in der Mitte unserer Gesellschaft stärken. Sie stehen morgens auf, um zu arbeiten, und tragen unsere Gesellschaft. Ihre Leistung muß sich wieder lohnen. Deshalb braucht Deutschland jetzt einen Politikwechsel für einen Neuanfang. Wir wollen mehr Netto vom Brutto für mehr Wachstum, Arbeitsplätze und Wohlstand, mehr Freiheit durch starke Bürgerrechte, mehr Bildung für mehr Zukunftsperspektiven, mehr Wettbewerb und weniger Ideologie in der Umweltpolitik für mehr Energie und mehr Vertrauen durch internationalen Dialog. Nutzen Sie jetzt Ihre Chance: Wir setzen auf eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft und auf selbstbewußte Bürger, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. Stärken Sie die FDP, damit die FDP Sie stärken kann. Wir sind überzeugt: Deutschland kann es besser." Das hat unter anderem zu dem großen Erfolg am 27. September 2009 geführt.

 

Es kommt aber immer auf das Wie an. Das Wählerpotential für eine liberale Partei liegt zwischen 20 und 30 Prozent. Die sprechen Sie und Ihre Mitstreiter aber nicht an.

 

Insofern muß ich Peter Tauber leider zustimmen, wobei mir völlig gleichgültig ist, was der verbitterte Alexander Gauland und Sie anhaben.

 

Das Thema "soziale Gerechtigkeit" sollten Liberale den Sozialisten und Kommunisten überlassen. Die liberalen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genügen mir vollkommen und sind schon anspruchsvoll genug: Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, Gleichheit im Sinne von Rechts- und Chancengleichheit und Brüderlichkeit im Sinne von Solidarität, Subsidiarität und Hilfe zur Selbsthilfe ("Subjekt- statt Objektförderung").

 

Aufstiegsorientierter Sozialstaat liest sich gut, wenn Sie es denn auch so meinen. Leider kann ich es nicht glauben. Ich habe kein Vertrauen mehr zu Ihnen. Den Begriff Bürgergeld haben Sie inzwischen mit Hilfe von "Bündnis 90/Die Grünen" und der SPD verbrannt. "Hartz IV 2.0" ist kein Bürgergeld, auch wenn es so genannt wird. Und liberal ist es schon gar nicht. Der "Sozialhilfeempfänger" ist als Bittsteller abhängig vom Können und Wollen seines "Kundenberaters" im Jobcenter.

 

Und mittlerweile fördern Sie wieder das Image der sozialen Kälte der FDP, indem sie die bereits verabschiedete Erhöhung des "Bürgergelds" in Frage stellen ... Leben Sie doch mal für ein Jahr von 500 Euro pro Monat. Lassen Sie sich auf dieses Experiment ein, unter der kritischen Begleitung von Journalisten? Das wäre doch mal eine Werbeaktion!

 

Mir geht's um einen liberalen Sozialstaat, einem Staat, der sich nicht nur sozial nennt, sondern tatsächlich sozial ist, ohne die Menschen zu bevormunden und zu gängeln: Dieser freiheitliche und gleichzeitig soziale Staat sorgt nicht selbst quasi bevormundend für die soziale Sicherheit seiner Bürger (z. B. durch Zwangssysteme wie die sogenannte Bürgerversicherung), läßt seine Bürger aber auch nicht im Regen stehen und stellt daher sicher, daß jeder für seine soziale Sicherheit vorsorgt - z. B. mit Hilfe des Konzepts der negativen Einkommensteuer, des liberalen Bürgergelds bzw. des (bedingungslosen) Grundeinkommens.

 

Liberal ist es, wenn alle Sozial- und Transferleistungen ersetzt werden, der entsprechende Geldbetrag, auf den jeder einen eindeutigen Rechtsanspruch hat, von den Finanzämtern - abhängig von einem möglichen Einkommen - ganz oder teilweise ausbezahlt und das darüber liegende Einkommen besteuert sowie die gesamte Sozial- und Umverteilungsbürokratie abgeschafft wird. So hatte es nach meinem Wissen auch "meine" FDP vorgeschlagen und gefordert.

 

Ebenso gehört der Sozialausgleich nicht in die (gesetzliche) Krankenversicherung. Versicherungen haben ausschließlich dem Risikoausgleich zu dienen. Der Sozialausgleich gehört in das Steuer- und Transfersystem und damit auf mehr und breitere Schultern. Auch dazu dient ein Bürgergeld, das diese Bezeichnung verdient.

 

Es mag schlimm sein, von "kleinen Leuten" zu sprechen oder zu schreiben, als noch schlimmer empfinde ich aber, diese Menschen im Stich zu lassen, sich nicht um ihre Interessen zu kümmern.

 

Wo ist denn die Verantwortung der Freien Demokraten, weiter soziale und ökologische Sensibilität zu zeigen, von der Sie schreiben?

 

Leugner des menschengemachten Klimawandels wie Nicola Beer und Frank Schäffler oder Steffen Hentrich und ein Oliver Luksic, der ganz in der Tradition von Heinrich Schneider steht, der im Jahr 1950 die Führung der Demokratischen Partei Saar übernommen hat?

 

Sie haben sich über die 12,6 Prozent bei der Landtagswahl NRW am 14. Mai 2017 gefreut. Es mag sein, daß Sie gemeinsam mit Ihrem Fahrer Arnim Laschet einen guten Koalitionsvertrag ausgehandelt haben. Das habe ich mit der CDU Elsdorf für die FDP Elsdorf am 26. Oktober 2009 auch getan.

 

Papier war und ist geduldig. Das gilt auch für Programme, So hat mich, abgesehen von meiner Begeisterung für die Grundsätze und -werte des Liberalismus, das  Wahlprogramms der F.D.P. zur Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 "Unser Land soll auch morgen liberal sein" am 11. Januar 1984 zum Mitglied werden lassen.

 

Entscheidend ist aber immer die Umsetzung von Programmen und auch von Koalitionsverträgen. Was hat die FDP NRW unter Führung von Joachim Stamp und Christof Rasche daraus gemacht? Nichts.

 

Das sieht man übrigens sehr schön an Forderungen und Vorschlägen der FDP NRW, die jetzt in der Opposition unter Führung von Henning Höne von ihr kommen, nachdem sie noch vor kurzem an der Regierung beteiligt war. Höne halte ich allerdings auch eher für einen Freiheitlichen als für einen Liberalen.

 

Auch Frei(heitlich)e Demokraten halten die Wähler anscheinend für ziemlich dumm.

 

Andreas Pinkwart hätte meinetwegen nach seinem Abgang von der politischen Bühne im Jahr 2011 gern an der Handelshochschule Leipzig bleiben können. Digitalisierung in NRW? Behörden? Schulen? Wann? Stamp mißachtet ein Gerichtsurteil. Rechtsstaatspartei? Es war einmal ... Wurde die Integration verbessert? Wo? Wie? Weltbeste Bildung? Fehlanzeige. G9? Lange Bank. Yvonne hat es noch nicht einmal geschafft, mit Hilfe ihres Ministeriums dafür zu sorgen, daß sich Schulleiter an die Regeln des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen halten.

 

Und in NRW hat die FDP "Corona-Maßnahmen" zugestimmt, die sie auf Bundesebene sogar in abgeschwächter Form in Bausch und Bogen abgelehnt und verdammt hat. Von der indirekten Beteiligung an der Bund-Länder-, an der Ministerpräsidentenkonferenz ganz zu schweigen, von der vor allem Ihr Kompagnon Wolfgang Kubicki und Sie nie etwas wissen wollten.

 

Ihr Freund Marco Buschmann übrigens auch nicht: "Die sterbliche Seele der Freiheit: Zur Verteidigung der liberalen Demokratie". Die liberale Demokratie befinde sich in ihrer stärksten Bewährungsprobe seit dem Zweiten Weltkrieg. Populismus greife überall um sich. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung ... Er hätte lieber seine Karriere als Rechtsanwalt in einer amerikanischen Spitzenkanzlei fortgesetzt. Auch Nicola Beer hätte ihre beruflichen Alternativen außerhalb der Politik nicht zurückstellen sollen.

 

Man kann nicht nicht kommunizieren. Die Frage ist nur, wie man es macht. Das ist völlig richtig. Sie sollten es sich zu Herzen nehmen und Ihren Gefolgsleuten ans Herz legen.

 

Waren Sie wirklich davon erstaunt, daß Ihnen im Bundestagswahlkampf 2017 "eine bedrückend hohe Zahl von Bürgern geschrieben hat, sie würden die Freien Demokraten nun nicht mehr wählen, da sie jetzt ja auch für 'widernatürliche Verbindungen' seien"?

 

Bitte sehen Sie es mir nach, wenn mich das sehr erstaunt. Sie haben doch diese Zielgruppe angesprochen, seit dem 6. Januar 2015 und erst recht seit Herbst 2015.

 

Lassen Sie mich abschließend feststellen, daß es weder mehrere liberale Parteien noch es in einer liberalen Partei mehrere Flügel geben sollte. Das dürften Sie wohl auch so sehen. Im Unterschied zu Ihnen sehe ich in der FDP nach wie vor mehrere Flügel und Gruppierungen, auch wenn die Freiheitlichen in der FDP die Liberalen ziemlich mundtot gemacht und an den Rand gedrängt haben.

 

Alle Liberalen sollten sich für die Freiheit aller Menschen in allen Lebensbereichen und auf allen Feldern der Politik einsetzen, immer begleitet von den anderen beiden liberalen Grundwerten Gleichheit und Brüderlichkeit, auch wenn einzelne Liberale unterschiedliche politische Schwerpunkte und Steckenpferde haben.

 

Besinnen Sie sich auf Ihre eigene ursprüngliche Idee von Liberalismus, freiheitlich, freisinnig und gleichzeitig sozial, human. Entlassen Sie die FDP aus dem Würgegriff der Freiheitlichen, übergeben Sie sie wieder den Liberalen.

 

Mit freundlich-liberalen Grüßen und den besten Wünschen für die Adventszeit

Ihr Wolfgang Gerstenhöfer

liberal - freiheitlich und gleichzeitig sozial

 

75 Jahre FDP

 

Freie Demokraten oder Liberale?

 

Gerhart Baum - das liberale Gewissen der FDP