E-Mail vom 8.1.2012

Sehr geehrter Herr Dr. Rösler, sehr geehrter Herr Döring,
 
obgleich Sie, sehr geehrter Herr Dr. Rösler, offensichtlich wenig kommunikativ sind - von Ihnen habe ich noch nie eine Antwort erhalten -, danke ich Ihnen, lieber Herr Döring, ganz herzlich für Ihr Schreiben und Ihre guten Wünsche zur Weihnacht und zum Jahreswechsel, und gebe Ihnen beiden unaufgefordert eine Rückmeldung zu Ihren Reden anläßlich des Dreikönigstreffens.
 
Der sächsische FDP-Landesvorsitzende wird von Bild mit dem folgenden Satz zitiert: "Die Meinung der Bürger sei oft nahe an dem, was auch die FDP wolle." Das sehe ich auch so. Leider wissen die Bürger nicht, was die FDP will. Und manchmal habe ich den Eindruck, daß es vor allem die FDP-Führung auch nicht (mehr) weiß.
 
Nun zu Ihren Reden.
 
Ihre Rede, lieber Herr Döring, hat mir gut gefallen. Sie hätten an der einen oder anderen Stelle noch etwas konkreter werden und die sozialen Aspekte des Liberalismus stärker betonen können. Wir müssen die Menschen da abholen, wo sie sind. Und - ob das (objektiv) berechtigt ist oder nicht - ein großer Teil der Menschen in unserem Land sind verunsichert, haben Angst und trauen ihren eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten nicht mehr. Deshalb ist es wichtig, ihnen deutlich zu machen, daß der Liberalismus eben nicht nur eine Weltanschauung für die ist, denen es gut geht, die schon alles haben und die sich keine Sorgen um ihre Existenz machen müssen, sondern für Menschen aller sozialen Schichten die richtige Wahl ist.
 
Sie, sehr geehrter Herr Dr. Rösler, haben die Rede eines liberalen Bundeswirtschaftsministers zum Thema Wachstum gehalten. Die Rede des Bundesvorsitzenden der FDP, die davon überzeugt ist oder sein möchte, die einzige Partei der Liberalen und für Liberale in Deutschland zu sein, habe ich leider nicht finden können.
 
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin eine überzeugter Anhänger und leidenschaftlicher Verfechter der liberalen Marktwirtschaft, die aus sich heraus dank und mit Hilfe eines starken Staates, der die "Spielregeln" für alle Marktteilnehmer festlegt und für die nötige Transparenz und einen konstruktiven Wettbewerb und für die Einhaltung der Regeln sorgt, sozial und auch ökologisch ist und "Wohlstand für alle" bei größtmöglicher Freiheit ermöglicht.
 
Sie reduzieren die FDP und den von ihr vertretenen Liberalismus meines Erachtens völlig ohne Not auf einen Teilaspekt. Zugegeben: Es ist gerade in der aktuellen Situation sicher nicht der unwichtigste Aspekt, aber es ist eben nur eine Nuance des Liberalismus. Die anderen Bereiche überlassen Sie wem? Der Piratenpartei Deutschlands? Der neuen liberalen Schwester? Sie wissen vielleicht von ihren Töchtern und ihren Schwestern: Sie können nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander.
 
Zurück zur sozialen Marktwirtschaft: Fast alle Politiker - Anhänger und Gegner der Marktwirtschaft - behaupten immer wieder, wir würden in Deutschland in einer sozialen Martkwirtschaft leben. Deshalb muß es doch auch nicht verwundern, wenn nun viele Menschen glauben, daß diese Wirtschaftsordnung für die aktuelle Situation (Banken-, Finanz-, Wirtschafts-, Schulden- und Wähungskrise) verantwortlich sei und Wachstum um jeden Preis ablehnen oder ihm zumindest skeptisch gegenüberstehen.
 
Richtig ist - zumindest nach meiner Überzeugung -, daß wir schon lange nicht mehr in einer (sozialen) Marktwirtschaft, wie sie von Adam Smith mit seinem Buch "Der Wohlstand der Nationen" begründet, von Walter Eucken mit seinem Buch "Grundlagen der Nationalökonomie", Wilhelm Röpke mit seinem Buch "Die Lehre von der Wirtschaft" und Milton Friedman mit seinem Buch "Kapitalismus und Freiheit" (z. B. mit dem Thema negative Einkommensteuer/Bürgergeld/bedingungsloses Grundeinkommen) aktualisiert bzw. verfeinert und von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack mit maßgeblicher Unterstützung der FDP - auch gegen erhebliche Widerstände aus CDU/CSU - versucht wurde, in Deutschland umzusetzen.
 
Spätestens seit der 1. Großen Koalition von 1966 bis 1969 und der Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StabG) vom 8. Juni 1967 und dann der 1. sozialliberalen Koaltion ab 1969 hat sich die Politik mehr oder weniger von der praktischen Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft verabschiedet.
 
Während auf der einen Seite Politiker versuchen, die besseren Unternehmer zu sein, haben sie ihre Aufsichtspflichten sträflich vernachlässigt und vor allem Konzernen freie Hand gelassen, die "Spielregeln" einseitig zu ihren Gunsten zu verändern. Von Markt, von Leistungswettbewerb, von Chancengleichheit, Transparenz und von Haftung und Verantwortung ("Eigentum verpflichtet") ist doch in vielen Bereichen längst nichts mehr zu sehen. Und in manchen Bereichen hat es sie noch nie gegeben - zum Beispiel im Gesundheitswesen, in dem das Geld in völlig falsche Bahnen gelenkt wird. Noch ist unser Gesundheitswesen weitgehend gut, aber im Verhältnis deutlich zu teuer und ineffektiv und gleichzeitig gibt es dort eine Menge schlecht bezahlter und überforderter Arbeitnehmer.
 
Warum haben Sie nicht deutlich gesagt, daß sich die FDP dafür einsetzt, die mittlerweile gern als Raubtierkapitalismus oder auch fälschlich als Neoliberalismus bezeichneten Mißstände zu beseitigen und endlich eine soziale bzw. liberale Marktwirtschaft einzuführen? Oder wollen Sie das gar nicht?
 
Sie sagen Wachstum sei für die FDP kein Selbstzweck, kein Fetisch, habe einen Auftrag. Das beruhigt mich, aber dafür kommt der Begriff sehr oft, zu oft in Ihrer Rede vor und Sie bleiben in Ihren Ausführungen sehr allgemein, sehr oberflächlich. Was bedeutet dies ganz konkret - vor allem mit Blick auf die begrenzten Möglichkeiten mit CDU/CSU.
 
Sie werden das Vertrauen der Mitglieder und noch mehr das der möglichen Wähler nicht durch Allgemeinplätze zurückgewinnen, dazu ist die Glaubwürdigkeit der FDP verspielt, sondern nur durch konkrete Vorhaben, Vorschläge und Forderungen und natürlich durch Taten in der Regierungskoalition.
 
Wo bleiben deshalb die anderen Themen der Liberalen? Wird die FDP jetzt (wieder einmal) zu einer Ein-Thema-Partei ("Wachstum durch Marktwirtschaft"), während die Piraten die anderen Themen besetzen? Ist das die künftige Arbeitsteilung zwischen der neuen DDP und der neuen DVP?
 
Was ist mit den Bürgerrechten z. B. der Religionsfreiheit - erst Kopftuch-, dann Gebetsverbot?
 
Was ist mit dem Datenschutz als Grundrecht im Grundgesetz? Was unternimmt die FDP, um die Freiheit nicht durch ihre schleichende Beseitigung zu schützen?
 
Was ist mit der Bildung z. B. dem Ausbau des Elementarbereichs statt einer Prämie dafür, sein Kind nicht in eine Kindertageseinrichtung gehen zu lassen?
 
Was ist mit einer Steuerreform - einfach, gerecht und niedrig - statt eines Steuerdschungels, in dem sich selbst Steuerberater, Finanzbeamte und -richter nicht mehr auskennen und in dem es möglich ist, viel Geld zu bekommen und zu haben und (fast) keine Steuern zu zahlen?
 
Was ist mit dem Bürgergeld statt eines Sozialrechts, das nicht mehr denen dient, die Hilfe brauchen, sondern denen, die sich am besten damit auskennen, und in dem sich aber gleichzeitig selbst Sozialrichter und -politiker nicht mehr zurechtfinden?
 
Was ist mit einer die Bevölkerungsentwicklung (immer mehr Ältere und immer weniger Jüngere) berücksichtigenden Finanzierung von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung statt eines Umlageverfahrens, das von der Hand in den Mund lebt und von dem schon lange bekannt ist, das es nicht zukunftsfähig ist?
 
Was ist mit der Vereinbarkeit von Familie, Freizeit und Beruf statt schöner Sonntagsreden, die im Alltag in den Unternehmen das Papier nicht wert sind, auf das sie geschrieben wurden?
 
Was ist mit dem Umweltschutz? War nicht Hans-Dietrich Genscher quasi der erste Umweltminister der Bundesrepublik?
 
Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und die Reihenfolge ist zufällig. Es gibt noch viele Bereiche, in denen Liberale etwas zu sagen hätten.
 
Warum tun Sie es nicht? Warum werden Sie nicht konkret? Wovor haben Sie Angst? Davor, noch weniger Spenden aus der Wirtschaft zu bekommen? Davor, Versprechen zu machen, die Sie dann nicht halten können? Davor, wieder in die Opposition gehen zu müssen?
 
Als Partei des Wachstums verdienen wir auch nicht mehr als zwei Prozent, als Partei des Liberalismus können wir mit mindestens 20 Prozent rechnen. Davon bin ich überzeugt.
 
Holen Sie die Menschen, Mitglieder und Wähler, dort ab, wo sie sich befinden, und nicht da, wo Sie sie gern hätten. Da werden Sie sie nämlich nicht finden - zumindest nicht mehr als fünf Prozent. Und unterschätzen Sie die veröffentlichte Meinung nicht. Dazu hänge ich Ihnen einen schon etwas älteren Artikelentwurf an.
 
Mit freundlich-liberalen Grüßen
Ihr Wolfgang Gerstenhöfer