Stellungnahme zur Rede von Christian Lindner, FDP-Bundesvorsitzender, anläßlich des Dreikönigstreffens am 6. Januar 2022

Christian Lindner
Christian Lindner

"Wir sind Anwalt der aufbruchsbereiten Mitte"


Diesen Satz habe ich in der Rede so gar nicht gefunden. Trotzdem steht er anscheinend für Christian Lindner über seiner Rede.

 

Werbung und Marketing haben wieder zugeschlagen. Christian Lindner kann es nicht lassen.

 

Was soll eine aufbruchsbereite Mitte sein? Wieder einmal neue Schlagworte? Wieder eine neue Zielgruppe? Die FDP also doch die Partei der Aufsteiger, Draufgänger, Besserverdiener, Karrieristen und Überflieger? Ist das gemeint?

 

"... Es entscheiden jetzt über Grundrechtseingriffe zur Bekämpfung der Pandemie wieder die Parlamente in Bund und Ländern. ..."

 

Es war nie anders. Es kann nach unserem Grundgesetz und den Verfassungen der Bundesländer gar nicht anders sein. Und das weiß Lindner. Trotzdem ...

 

Er kann es nicht lassen, mit dem Kommunikationsstil der AfD zu spielen. Direkt zu Beginn seiner Rede muß er wieder am rechten Rand fischen, um Anhänger und Wähler der AfD und um "Querdenker" werben, aber auch um die Freien Demokraten in ihrer Entscheidung für die FDP zu bestätigen, die man aus diesem Lager bereits abgeworben hat.

 

Konservativ-liberal, liberal-konservativ ... Was auch immer das sein soll ... Liberale sind es nicht. Wolfgang Kubicki läßt grüßen. Das war und ist wohl seine Strategie, um die FDP wieder in den Bundestag zu bringen. Lindner hat sich einwickeln lassen. Die Partei "NEOS - Das Neue Österreich und Liberales Forum" war sein Vorbild; es ist dann doch mehr die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) von Heinz-Christian Strache geworden. Verdanken wir das Wolfgang Kubicki oder der Werbeagentur Heimat? Nomen est omen?

Marco Buschmann
Marco Buschmann

"... Unmittelbar nach der Bundestagswahl kamen mit Blick auf den Winter Rufe, ..., nach neuen Lockdown-Maßnahmen auf. ... Die neue Bundesregierung indessen hat eine andere Krisenstrategie geprägt. ..."

 

So kann man es auch nennen. War es nicht Marco Buschmann, der für die Freien Demokraten am 27. Oktober 2021 mit Blick auf die seit Mitte Oktober stark steigenden Zahlen erklärt hat, daß das Gesundheitssystem nicht an seine Grenzen stoßen wird? Hätten die Freien Demokraten seinerzeit nicht wirkungsvolle Kontaktbeschränkungen verhindert, wäre vielen Menschen sehr viel Leid erspart geblieben.

 

Die "neue" FDP war immer noch so damit beschäftigt, sich den Anhängern und Wählern der AfD und damit auch den "Querdenkern" anzubiedern, daß man den Blick auf die Realität verloren hatte. Das war fatal und kostete sehr vielen Menschen Gesundheit und Leben, nicht nur den an COVID-19 Erkankten, sondern auch denjenigen, deren Behandlungen verschoben werden mußten.

 

Ich war in einer anderen FDP Mitglied, in der FDP von Theodor Heuss, Thomas Dehler, Reinhold Maier, Erich Mende, Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff, Wolfgang Gerhardt und Guido Westerwelle.

 

Man könnte einwenden, daß Erich Mende im Jahr 1970 Mitglied der CDU geworden ist. Für mich war Mende ein Liberaler seiner Zeit und seiner Generation. Sein Wechsel zur CDU war bedauerlich, aber in gewisser Weise auch konsequent.

 

Heute werden jüngere Menschen mit einer ganz anderen Sozialisation aber mit einer ähnlichen Meinung Mitglieder der FDP und nennen sich Freie Demokraten. Sie mögen die "Soziale Marktwirtschaft", die nicht mehr viel mit ihren Ursprüngen und einer liberalen Marktwirtschaft zu tun hat, und einen demokratischen Rechtsstaat befürworten, Liberale sind sie aber nicht unbedingt. Dazu gehört mehr, viel mehr.

 

So manche Freie Demokraten, allen voran Thomas L. Kemmerich, möglicherweise auch Lindner selbst wären möglicherweise in der Partei "Liberal-Konservative Reformer" besser aufgehoben als in der FDP.

 

Ich vermisse Guido Westerwelle sehr. Er hätte aus der FDP - vor allem nach den Erfahrungen mit seiner Erkrankung - eine liberale Volkspartei, die Liberale Partei Deutschland machen können. Sicher hätte er nicht auf den Zusatz "Die Liberalen" verzichtet und versucht, am rechten Rand nach möglichen Wählern und Mitgliedern zu fischen. Ich kann jedem sein Buch ans Herz legen: Guido Westerwelle mit Dominik Wichmann, Zwischen zwei Leben: Von Liebe, Tod und Zuversicht. Ich hatte so sehr gehofft, daß Guido es schafft, daß er doch noch einmal politisch aktiv wird. Es hat nicht sollen sein. Leider.

Christian Lindner
Christian Lindner

"... Mit all diesen Maßnahmen ist es gelungen, die vierte Welle zu bewältigen, ohne unser Gesundheitssystem zu überfordern. ..."

 

Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Wie kommt Lindner darauf, daß unser Gesundheitssystem nicht überfordert war? Lebt er in einer anderen Wirklichkeit? Von wem läßt er sich informieren?

 

Das Gesundheitssystem war überfordert, ist es noch. Ärzte und Pflegekräfte sind und waren an, teilweise über der Grenze des Zumutbaren. Es sind Menschen gestorben, die unter anderen Umständen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht hätten sterben müssen. Notwendige Operationen mußten verschoben werden; Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte wurden und werden aufgeschoben. Die Folgen sind im Detail gar nicht absehbar.

 

"... Aber kann man eigentlich die Bedeutung einer liberalen Regierungspartei deutlicher unterstreichen, als wenn man ihr vorwirft, eine besondere Sensibilität für Freiheit und für die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen zu haben? ..."

 

Liberale Regierungspartei? Hat die "neue" FDP á la Lindner nicht am 6. Januar 2015 ganz bewußt und öffentlichkeitswirksam nach fast 40 Jahren auf den Zusatz "Die Liberalen" verzichtet?

 

Besondere Sensibilität für Freiheit? Von welcher Freiheit spricht Lindner? Freiheit ist nicht gleich Freiheit.

 

Die Idee der Freiheit im liberalen Sinne hat nichts mit Freiheit um jeden Preis, "Mit dem Kopf durch die Wand.", "Jeder ist seines Glückes Schmied." in Tateinheit mit "Friß Vogel oder stirb." und auch nichts mit blindem Egoismus zu tun, der auf die eigenen Interessen und Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt.

 

Das ist eher die Freiheit, die sich Anhänger des Libertarismus oder völkische Freiheitliche auf ihre Fahnen schreiben.

 

Die liberale Freiheit ist immer die Freiheit des einzelnen als Teil einer Gemeinschaft, als Mitglied der Gesellschaft, als Bürger des Staates, ohne in einem Kollektiv aufzugehen.

 

Es ist ein Geben und Nehmen, ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten. Aus Rechten erwachsen auch immer Pflichten.

 

Freiheit und Verantwortung sind zwei Seiten einer Medaille - zumindest für Liberale.

Thomas-Dehler-Haus in Berlin
Thomas-Dehler-Haus in Berlin

"... Der Schutz der Gesundheit ist ein hohes Gut, aber das höchste Gut unserer Verfassung, das ist und bleibt die Freiheit. ..."

 

Unser Grundgesetz begründet eine freiheitliche demokratische Grundordnung. Sicher kann man unsere Verfassung liberal nennen, freiheitlich und gleichzeitig sozial.

 

Das höchste Gut, der höchste Wert ist aber nicht die Freiheit, sondern die Würde des Menschen. Sie ist unantastbar. Sie muß geschützt werden. Ihr dienen letztendlich alle Grundrechte.

 

Was nutzt alle Freiheit, wenn man sie gesundheitsbedingt nicht nutzen kann, wenn man krank oder gar tot ist?

 

Die Gesundheit ist und bleibt unser höchstes Gut.

 

Und wie so oft gilt auch hier, auch und gerade für Liberale: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen.

 

Schielt man aber immer wieder nach rechts, dann wird das sehr schwierig.

 

"... Für die Impfpflicht, die gegenwärtig diskutiert wird, gilt dasselbe: Sie ist ein empfindlicher Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Menschen. Und deshalb ist es nur natürlich und nachvollziehbar, dass es innerhalb einer liberalen Partei, einer liberalen Fraktion, wie in der Gesellschaft insgesamt, unterschiedliche Abwägungen dazu gibt. Es ist eine Initiative der FDP gewesen, darauf zu achten, dass diese sehr grundlegende Abwägung nicht entlang von Partei- oder Fraktionslinien getroffen wird, sondern dass diese Abwägung im Deutschen Bundestag in einer offenen Debatte auf der Basis der individuellen Gewissensentscheidung getroffen wird. ... Ich habe heute Morgen gehört, dass aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gefordert wird, die Ampelkoalition müsse nun einen eigenen Gesetzesentwurf für eine allgemeine Impfpflicht vorlegen. ..."

 

Liberale Partei? Liberale Fraktion? Freie Demokraten!

 

Wäre nicht Lindner einer der ersten, die von einer Bundesregierung, an der die FDP nicht beteiligt wäre, einen solchen Gesetzentwurf fordern würde? Jeder kann sich seinen Teil dazu denken.

 

Ich habe mir schon früher oft gewünscht, daß mehr Gesetzesinitiativen aus dem Parlament, aus der Legislative kämen als von der Regierung ,von der Exekutive. Ist aber bei einem so komplexen Thema wie einer Impfpflicht, bei einem solchen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen nicht gerade die Regierung gefragt?

 

Hat nicht gerade die FDP, haben nicht insbesondere Lindner und Kubicki zur Zeit der Großen Koalition die Bundesregierung, den Bundesgesundheitsminister in die Pflicht genommen, obgleich oft die Länder in der Pflicht waren? Länder, an deren Regierungen auch Freie Demokraten beteiligt waren und sind.

 

Vor allem die "neue" FDP will sich nun vor einer klaren Aussage drücken, will keine neu gewonnenen Wählerkreise verprellen.

 

Denn anscheinend gibt es viele Freie Demokraten, angeführt von Wolfgang Kubicki und Linda Teuteberg, die sich mehr dem Freiheitsbegriff von Freiheitlichen und "Querdenkern" als dem des Liberalismus verpflichtet fühlen und auf dem Altar dieser falsch verstandenen Freiheit Gesundheit und Leben von immer mehr Menschen opfern.

 

Der liberale Freiheitsbegriff ist immer mit dem Grundwert der Brüderlichkeit verbunden und umfaßt daher auch immer Verantwortung - für sich und seine Mitmenschen.

 

Ich war und bin kein Freund von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen oder Betriebsschließungen, habe anfangs auch die Maskenpflicht sehr skeptisch gesehen. Sie haben aber wohl etwas gebracht. Sie haben gewirkt.

 

Auch von einer allgemeinen Impfpflicht halte ich nicht viel und hatte gehofft, daß sich eine ausreichende Zahl an Menschen freiwillig impfen läßt, damit eine sogenannte Herdenimmunität (schreckliches Wort!) erreicht werden kann.

 

Und dann brüstet sich Wolfgang Kubicki, immerhin ein Vizepräsident des Deutschen Bundestags, öffentlich als "Lockdown-Brecher", tritt die Rechtsvorschriften mit Füßen, die das Gremium, dem er vorsteht, das er repräsentieren darf, verabschiedet hat.

 

Diejenigen, die aus der FDP eine "AfD light" machen wollen und teilweise bereits gemacht haben, sind nach meiner Überzeugung maßgeblich dafür mitverantwortlich, daß wir jetzt überhaupt über eine allgemeine Impfpflicht diskutieren müssen.

 

Minderheiten haben ein Recht auf Schutz. Dieses Recht findet allerdings dort seine Grenzen, wo dieser Schutz eine Gefahr für die Mehrheit und sogar für die jeweilige Minderheit selbst darstellt.

Christian Lindner
Christian Lindner

"... Ich weiß, dass viele die Erwartungen haben, dass sich insbesondere bei der humanitären Zuwanderung nach Deutschland viel tut. ..."

 

Es geht nicht um humanitäre Zuwanderung. Was soll das sein?

 

Es geht darum Menschen zu helfen, die vor Krieg und Gewalt und/oder vor politischer Verfolgung ihre Heimat, ihren Kulturkreis, ihre Freunde und ihre Familie verlassen müssen, um ihr Leben zu retten, und die menschenwürdige Unterstützung brauchen, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren oder sich bei uns ein neues Leben aufbauen können.

 

Wieder werden Vorurteile bedient, die Asylbewerber, Flüchtlinge und Einwanderer "über einen Kamm scheren", die nicht differenzieren.

 

Das Asylrecht, das die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes aufgrund der schrecklichen Ereignisse zwischen 1933 und 1945 eingeführt haben, und auch der subsidiäre Schutz sind nicht von Rückführungs- und Migrationsabkommen mit anderen Staaten abhängig und bedürfen dieser auch nicht. Das Asylrecht, die Pflicht, Menschen in Not zu helfen, gelten und müssen gelten - für Liberale.

 

Wenn im Koalitionsvertrag die Berufung eines "Sonderbeauftragten für die Abschließung solcher Migrationsabkommen" vereinbart wurde und die Freien Demokraten ihn für derart existentiell betrachten, dann stellt sich die Frage: Warum wurde er noch nicht benannt?

 

Parlamentarische Staatssekretäre wurden nach meinem Eindruck reichlich be- und ernannt. Paßt das zu einer sparsamen Verwaltung, wie sie von der FDP immer wieder oft und gern gefordert wird? Geht es doch wieder mehr um Posten als um Inhalte?

 

"... Wir Liberale haben großen Respekt vor den Menschen, die es im Leben schon zu etwas gebracht haben. Großen Respekt vor den Menschen, die sich etwas erarbeitet haben, die ihre Frau, ihren Mann im Leben stehen können. Aber unser Herz und unsere Leidenschaft, die gelten denen, die überhaupt noch etwas erreichen wollen, die sich erst noch auf den Weg machen wollen, die ihre Chance suchen. Für die Starken und Etablierten haben wir Anerkennung, aber die brauchen nicht zwingend die Unterstützung von uns Freien Demokraten, die sind ja bereits etabliert. Aber diejenigen, die sich erst auf den Weg machen, jene brauchen eine Lobby. Die Einsteiger, die Aufbrecher, die Außenseiter, die Newcomer, die Start-ups, für die machen wir uns stark. ..."

 

Liberale? Freie Demokraten!

 

Diese Aussage scheint mir mal wieder sehr mißverständlich zu sein. Ist das gewollt?

 

Was soll dieser Respekt bedeuten? Sind Freie Demokraten Anhänger einer Meritokratie? Für Liberale ist jeder Mensch wertvoll - als Mensch - mit allen seinen Stärken und Schwächen.

 

Liberale setzen sich nicht nur für die Menschen ein, die auf der Sonnenseite des Lebens oder am Beginn einer vielversprechenden Karriere stehen, sondern grundsätzlich für alle Menschen, denen größtmögliche Freiheit wichtig ist, auch für die, die nicht oder nicht mehr zu den Leistungsträgern gehören - unabhängig von Herkunft, Einkommen und Vermögen, aber auch von Lebensalter und Gesundheitszustand.

 

"Das Glück ist mit den Tüchtigen." und "Jeder ist seines Glückes Schmied." sind keine liberalen Aussagen; sie sind konservativ. Es ist Sozialdarwinismus nach dem Motto "Friß Vogel oder stirb.".

 

Liberale sorgen für gleiche Chancen, sorgen für Bildung und sorgen für Möglichkeiten für jeden, der sie nutzen möchte.

 

"... Und wenn ich jetzt zurückdenke an die Rede vor 12 Jahren, ... Da ging es um das Bildungssystem, dass in Deutschland leider so stark wie nahezu nirgendwo im Bereich der entwickelten Gesellschaften die Herkunft aus dem Elternhaus, also der Zufall der Geburt, über den Platz entscheidet, den man im Leben einnimmt. ..."

 

Damals hatte ich noch große Hoffnung in Christian Lindner gesetzt, hatte ihn für einen Liberalen gehalten, auch wenn ich von seiner Formulierung "mitfühlender Liberalismus" nichts gehalten habe, weil gelebter, ganzheitlich und konsequent angewandter Liberalismus für mich per se sozial ist und sein muß. Ist er es nicht, dann ist es für mich auch kein Liberalismus, vielleicht Libertarismus, Anarchismus oder Kapitalismus, aber kein Liberalismus.

 

Zurück zum Bildungssystem:

 

Was hat die FDP in den vergangenen zwölf Jahren denn in dieser Richtung getan? Nichts?

 

Die FDP stellt seit dem 30. Juni 2017 in Nordrhein-Westfalen die Ministerin für Schule und Bildung. Und? Was hat sich getan?

 

Hängt der Bildungserfolg nicht mehr davon ab, ob man die "richtige" Schule ausgewählt, den "richtigen" Lehrer erwischt und/oder die "richtigen" Eltern hat? Wird die Bildungsarbeit nicht  immer mehr aus den Schulen in die immer spärlichere Freizeit der Schüler und die Elternhäuser ausgelagert? Glück für die, die Eltern haben, die die Lehrer ersetzen oder sich professionelle Hilfe leisten können.

 

Nichts hat sich geändert. Nicht Wasser predigen und Wein trinken. Fordern kann man viel, wenn man nicht in der Verantwortung ist. Die beste Werbung ist: machen.

Christian Lindner
Christian Lindner

"... Für mich ist eine der größten Herausforderungen sozial gerechter Politik, dafür zu sorgen, dass die Herkunft aus dem Elternhaus eben nicht mehr entscheidend ist für den Platz, den man im Leben einnimmt, sondern Talent und Fleiß und Risikobereitschaft, also Leistungsorientierung. ..."

 

Sozial gerecht? Was ist sozial gerecht? Gerechtigkeit bedeutet, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Aber was soll soziale Gerechtigkeit sein? Wer bestimmt nach welchen Kriterien, was sozial gerecht ist? Liberale sollten das Thema "soziale Gerechtigkeit" den Sozialisten und Kommunisten überlassen.

 

Die Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit genügen Liberalen vollkommen und sind schon anspruchsvoll genug.

 

Dabei stehen für mich Gleichheit für Rechts- und Chancengleichheit und Brüderlichkeit für Subsidiarität, Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe ("Subjekt- statt Objektförderung") und halte ich deshalb auch die Idee eines (bedingungslosen) Grundeinkommens für eine liberale Forderung (Juliet Rhys-Williams, Milton Friedman).

 

Leistungsorientierung?

 

Will die FDP doch die Partei der Ellbogengesellschaft, des Rechts des Stärkeren und der sozialen Kälte, der Klientelpolitik ("Mövenpick-Partei"), des "Manchester- oder Neokapitalismus" ( = arbeitnehmer- und gewerkschaftsfeindlich und arbeitgeberfreundlich) und der Pöstchenjäger sein?

 

Leistung muß sich lohnen. Keine Frage. Leistung ist aber nicht alles. Wollen die Freien Demokraten noch mehr Menschen in ein Burn-out treiben?

 

"Die  Arbeit ist oft unbequem, die Faulheit ist es nicht, trotzdem: Der kleinste Ehrgeiz, hat man ihn, ist stets der Faulheit vorzuziehn!"

Das ist nicht liberal. Das ist nicht human.

 

Gibt es Lindner nicht zu denken, daß bereits heute die häufigste Ursache für eine Berufsunfähigkeit mit 31 Prozent psychische Erkrankungen sind? Ist eine noch stärkere Leistungsorientierung die Antwort der FDP darauf?

 

"... Ich glaube, die beste soziale Politik ist nicht die, die dann interveniert, wenn Menschen bedürftig geworden sind, sondern die beste soziale Politik ist jene, die in die Chancen und Köpfe der Menschen investiert. Das ist die sozialste Politik, die wir machen können. ..."

 

Hier kann ich Lindner voll und ganz zustimmen. Das wäre liberale Politik. Wo macht die FDP diese Politik? Wo sind die guten Beispiele?

 

Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt ... Wo?

 

Armut verhindern, nicht Reichtum. Es geht nicht um die Umverteilung von Einkommen und Vermögen, sondern um gelebte Solidarität, um soziale Sicherheit, um die Würde des Menschen.

 

Keine Bildung ist zu teuer.

 

Wann macht man sich endlich ernsthaft Gedanken über Lehrmethoden, Lerninhalte und -ziele, um Lehr- und Lernmittel und deren Finanzierung, die Ausstattung und Gestaltung der Schulen und die Anzahl, die Qualifikation und die Motivation der Lehrer?

 

Bildung darf nicht länger vom Glück und von Zufällen abhängen. Und dann wundern sich alle, wenn die soziale Herkunft zu Bildungsunterschieden führt ... Gerade in der jüngsten Vergangenheit "dank" der Folgen der COVID-19-Pandemie ist dies mehr als deutlich geworden.

 

Bekannt ist es aber schon sehr lange. "Schüler von heute werden in Schulen von gestern mit den Methoden von vorgestern auf Probleme von übermorgen vorbereitet!"

 

Wo sind die Sozialarbeiter, Schulpsychologen, IT-Fachleute und anderen Berufsgruppen, um die Lehrer zu unterstützen und von allem zu entlasten, das nicht zu ihren Kernaufgaben gehört?

 

Nach meinem Eindruck kommen in der Lehrerausbildung die wesentlichen Kompetenzen nach wie vor viel zu kurz. Es gibt gute Lehrer, keine Frage, aber es ist eher Glückssache für Schüler, solche Lehrer zu erwischen.

 

In den Mittelpunkt der Aus- und Weiterbildung gehören die neuesten Erkenntnisse der Pädagogik, der Psychologie und inzwischen wohl auch der Neurowissenschaften. Lehrer müssen lernen, sich selbst und ihre Schüler zu motivieren, auch auf sich selbst zu achten und sich zu schützen, Kenntnisse und Fertigkeiten engagiert und altersgerecht zu vermitteln, die Stärken und Schwächen ihrer Schüler zu erkennen und in ihrem Unterricht zu berücksichtigen und aktiv und konstruktiv mit ihren Schülern und deren Erziehungsberechtigten zu kommunizieren.

 

Ich muß gestehen, daß ich die pädagogischen und psychologischen Qualifikationen und auch die eigene Motivation der Lehrer für deutlich wichtiger halte, als Experte in ihrem Unterrichtsfach zu sein.

 

Wir brauchen mehr Wettbewerb zwischen den Schulen um Schüler, um qualifizierte und motivierte Lehrer, um erfolgversprechende Lehrmethoden und um geeignete Lernmittel. Wir brauchen Schulen, die sich als Dienstleister für ihre Schüler und deren Erziehungsberechtigten und damit letztlich für unsere Gesellschaft verstehen.

 

Daher bin ich für größtmögliche Autonomie der Schulen, allerdings auch für Mindeststandards und zentrale Prüfungen durch externe Prüfer, und die Idee der Bildungsgutscheine von Milton Friedman, um die Schulen zu finanzieren. Damit entscheiden die Schüler bzw. deren Eltern, welcher Schule das Geld zukommt.

 

Unsere Schulen - und auch die "Kultusbürokratie" - müssen endlich im 21. Jahrhundert ankommen!

Christian Lindner
Christian Lindner

"... Der Respekt, wie wir Freie Demokraten ihn verstehen, bemisst sich nicht an Subventionen oder Umverteilungsmaschinerien, sondern an der Anerkennung jedes Bemühens. Der bemisst sich an der Anerkennung des individuellen Beitrags, den jemand zum Gelingen unserer Gesellschaft beitragen möchte. ..."

 

"Die Botschaft hör' ich wohl, allein mir fehlt der Glaube." Ich lasse mich allerdings sehr gern vom Gegenteil überzeugen.

 

Leider widerspricht sich Lindner in seiner Rede selbst. Das macht nicht glaubwürdig.

 

"... Und ich sage zu, mit den Möglichkeiten, die ich habe, dass wir eine solche solidarische Unterstützung der Menschen, die besonders betroffen sind von den gestiegenen Kosten beim Heizen, dass wir die auch finanzieren werden. ..."

 

Das klingt gut. Ich bin gespannt. Nun müssen den Worten Taten folgen - unverzüglich.

 

"... Bei der Bewertung dieser Investitionen aber darf nicht verkannt werden, dass Kernenergie CO2 frei sein mag, aber alles andere als nachhaltig ist. Würde also die nicht nachhaltige Kernenergie nicht auch in den Blick genommen werden hinsichtlich ihrer langfristigen Folgen für die Generation der Enkel, Urenkel, Ururenkel, dann gäbe es eine Wettbewerbsverzerrung gegenüber jenen, die auf klimafreundlich nachhaltige Energiequellen setzen. Deshalb müssen wir darauf achten, dass sich eine solche Wettbewerbsverzerrung aufgrund der Ungleichbehandlung der Nachhaltigkeitsfrage eben nicht ereignet. ... Für Deutschland ist die Kernenergie ohnehin keine Option. Manche träumen davon. Wo aber gibt es eine Bereitschaft für neue Anlagen, wo gibt es private Betreiber? Wo gibt es privates Kapital? Wo gäbe es einen privaten Versicherer, der das Risiko der Kernenergie im Markt versichern würde? Das gelingt nur mit Staatshaftung. Für einen Marktwirtschaftler ist das bereits ein Anzeichen, dass Kernenergie auch ordnungspolitisch nicht vertretbar ist. Eine Energiequelle, die nur etabliert werden kann, wenn der Staat in die Haftung geht, zeigt schon marktwirtschaftlich an, dass es sich nicht um eine nachhaltig verantwortbare Energiequelle handeln kann. ..."

 

Volle Zustimmung. Es sehen nur nicht alle Freien Demokraten - darunter Bundestagsabgeordnete - so. Hat man vielleicht doch die falschen Menschen in die FDP geholt?

 

Liberale sind per se grün. Für Liberale sind Klima-, Umwelt- und Natur- sowie Tier- und Artenschutz kein Selbstzweck. Sie dienen letztlich den Menschen und dem Erhalt ihrer natürlichen Lebensgrundlagen. Das entspricht dem Kategorischen Imperativ.

 

Es hatte schon seinen Grund, warum ein Liberaler quasi der erste Bundesumweltminister (Hans-Dietrich Genscher) und ein Liberaler der erste Präsident des Umweltbundesamtes (Heinrich von Lersner) gewesen sind.

 

Liberale lehnen die Kernenergie inzwischen ab, weil deren Sicherheit und Entsorgung nicht gewährleistet sind.

 

"... Uns geht es nicht um die Privilegierung eines einzelnen Verkehrsträgers. Aber genauso wenig wollen wir die Entscheidungen der Menschen über ihr individuelles Mobilitätskonzept politisch in einen zu engen Rahmen führen. Gerade im ländlichen Raum sind die Menschen auf das Auto angewiesen. Deshalb geht es darum, den Menschen die Freiheit zu geben, sich das individuelle Mobilitätskonzept zu wählen, das zu ihnen passt. ..."

 

Sehr gut. Machen!

 

"... Eine der ersten Maßnahmen der neuen Koalition und auch von mir in meiner neuen Ressortverantwortung war, ein Nachtragshaushalt von 60 Milliarden Euro vorzulegen. ..."

 

Schulden bleiben Schulden. Da helfen auch keine Taschenspielertricks. Der Versuch, den Schwarzen Peter der Großen Koalition zuzuschieben, ist durchsichtig.

 

Glaubwürdigkeit geht anders. Lindner betrügt nicht nur die Wähler seiner Partei, sondern auch sich selbst, wenn er sich von dem Wahlversprechen, die Schulden nicht zu erhöhen, als Bundesfinanzminister verabschiedet, ohne es offen und ehrlich zugeben zu wollen und zu begründen.

 

Sich hinter einem noch von der Großen Koalition beschlossenen möglichen Kreditrahmen zu verstecken, der nicht hätte ausgeschöpft werden müssen, ist ziemlich armselig.

 

Man kann seine Meinung ändern und auch wegen einer Koalition Kompromisse eingehen, dann muß man sich aber auch dazu bekennen und dazu stehen.

 

Halten die Freien Demokraten ihre Wähler wirklich für so dumm? Warum erinnert mich das an das Jahr 2010? Damals war es das Versprechen einer großen Steuerreform. Auf sie warten wir bis heute.

Christian Lindner und Friedrich Merz
Christian Lindner und Friedrich Merz

"... Ich setze meine Hoffnungen darauf, dass der Platz des Parteivorsitzenden ja bald besetzt ist. Ich setze Hoffnung in Friedrich Merz. Da wird sich entscheiden, welchen Weg die Union geht. ... Wir haben kein Interesse daran, als Freie Demokraten uns von CDU und CSU zu entfremden. Ganz im Gegenteil. ..."

 

Ist die "neue" FDP á la Lindner und Kubicki doch Teil eines Lagers? Gab und gibt es nicht eine nicht zu unterschätzende Zahl an Freien Demokraten, die sich Friedrich Merz in der FDP gewünscht hätten? Hält er sich nicht auch für liberal-konservativ?

 

Ich werde wahrscheinlich nie verstehen, wie man politisch liberal-konservativ sein kann und was das genau sein soll. Ein Zeichen für eine dissoziative Identitätsstörung?

 

Man kann meines Erachtens nicht in einer Person ein Liberaler und ein Konservativer sein. Entweder man ist politisch liberal oder man ist politisch konservativ.

 

Übrigens wird der designierte Generalsekretär Bijan Djir-Sarai auch von einigen Medien als liberal-konservativ bezeichnet. Sehr interessant.

 

Was sagt das über die weitere Entwicklung der FDP aus?

 

Mit dem Begriff sozialliberal verhält es sich ganz genauso. Liberal ist für mich sozial, aber sozialliberal nicht zwingend liberal.

 

Das Präfix sozial diskreditiert den Begriff Liberalismus. Außerdem steht das Wort sozialliberal - zumindest in Deutschland seit 1956 bzw. 1966 - primär für eine Verbindung von Liberalen und Sozialdemokraten. So ist es gelernt, auch wenn der Ausdruck bereits .im Jahr 1891 von Theodor Hertzka eingeführt wurde.

 

Das Attribut sozialliberal erweckt den Eindruck, daß es auch einen Liberalismus gebe, der nicht sozial ist, oder daß der Liberalismus eines sozialen Korrektivs bedürfe. Das sehe ich nicht so und dieses Image sollte von Liberalen auch nicht noch gefördert werden.

Christian Lindner
Christian Lindner

"... Wir werben um Ihr Vertrauen in uns als eine eigenständige liberale Kraft. Als eine Kraft, die Ihre Freiheit ins Zentrum ihrer Bemühungen stellt und die alles in ihrer Macht Stehende tut, nach bestem Wissen und Gewissen aus dem Mandat, das Sie uns geben, möglichst viele liberale Politik zu gewinnen. ..."

 

Liberale Kraft? Liberale Politik?

 

Lindner hatte die Chance, aus der FDP (wieder) eine und damit die Liberale Partei Deutschland zu machen.

 

Diese Chance hat er nach dem 22. September 2013 verspielt, weil er sich nicht auf die liberalen Werte und Inhalte konzentriert hat, sondern auf eine populistische Strategie, um wieder in den Bundestag zu kommen, quasi um jeden Preis Politik wurde durch Marketing und Liberalismus durch Populismus ersetzt.

 

Statt ein liberales Grundsatzprogramm zu erarbeiten, das den Liberalismus konsequent und radikal auf allen Politikfeldern und in allen Lebensbereichen vertritt, hat man lediglich ein Leitbild entwickelt. Leitbilder geben sich Unternehmen und dort sind sie oft das Papier nicht wert, auf das sie geschrieben oder gedruckt werden. Parteien haben Programme.

 

Die FDP hat seit 1948 schon so manche guten Programme, liberale Programme gehabt - und hat sie auch heute. Ich bin immerhin am 11. Januar 1984 aufgrund des Wahlprogramms der F.D.P. zur Bundestagswahl am 5. Oktober 1980 "Unser Land soll auch morgen liberal sein", beschlossen auf dem Bundesparteitag in Freiburg am 7. Juni 1980, Mitglied geworden. Für mich eines der besten Programme der FDP.

 

In weiten Teilen dürfte es auch heute noch aktuell sein, zumindest sind viele Forderungen bis heute nicht umgesetzt worden. Das war und ist für mich das Programm einer liberalen Partei und machte die FDP zu meiner politischen Heimat - von 1983/84 bis 2011/12.

 

Am 6. Januar 2015 hat man sich mit dem demonstrativen Verzicht auf den Zusatz "Die Liberalen", einem neuen Erscheinungsbild und die faktische Umbenennung in Freie Demokraten ganz bewußt vom Liberalismus verabschiedet, auch wenn man wohl versäumt hat, die Satzung zu ändern, in der immer noch steht, die FDP sei die liberale Partei in Deutschland.

 

Es hatte gute Gründe, diesen Zusatz im Jahr 1976 einzuführen, und es hatte sicher auch Gründe, ihn abzuschaffen. Aus liberalen Freidemokraten wurden Freie Demokraten. Die Liberalen gerieten in die Minderheit.

 

Die FDP war 1948 der Versuch, allen Liberalen wieder eine politische Heimat zu geben - nach der Deutschen Fortschrittspartei von 1861. Sie wurde am 12. Dezember 1948 mit dem Ziel gegründet, alle Liberalen zu vereinen und für alle Aspekte des Liberalismus zu stehen - mit Blick auf den Staat, die Gesellschaft und die Wirtschafts- und Sozialordnung.

 

Daher sollte sie auch Liberaldemokratische Partei heißen. Das scheiterte an Deutschnationalen und (ehemaligen) Nationalsozialisten, die sich der FDP bedienen wollten, ähnlich wie im Verband der Unabhängigen in Österreich, aus dem die FPÖ hervorgegangen ist.

 

Die Bezeichnung als Freie Demokratische Partei war ein Kompromiß, um den Versuch nicht bereits zu Beginn scheitern zu lassen. Gescheitert ist der Versuch trotzdem bald. Denn bereits im Jahr 1956 spaltete sich die Freie Volkspartei (FVP) ab. Es sollten die Parteien "Nationalliberale Aktion - NLA" (1970), "Liberale Demokraten - LD" (1982), "Bund Freier Bürger - BFB" (1994) und "Neue Liberale -NL" (2014) folgen.

 

Nachdem man sich - nach der sogenannten "Naumann-Affäre" (1953), den Entwicklungen ab dem Jahr 1956 ("Jungtürken-Aufstand") und vor allem seit dem Jahr 1969 (sozialliberale Koalition in Bonn) - vermeintlich von diesen "freiheitlichen" Kreisen getrennt hatte, wollte man dies im Jahr 1976 mit dem Zusatz "Die Liberalen" deutlich und aus den Freidemokraten ganz offiziell Liberale machen, ohne den eingeführten Parteinamen zu ändern.

 

Lindner wollte die FDP auf den Weg der Partei "NEOS" führen und ist dann doch spätestens im Herbst 2015 eher in Richtung FPÖ abgebogen. Nur die zusätzliche Parteifarbe magenta erinnert noch daran. War er bei Antritt dieses Amtes einfach noch zu jung, hatte er zu wenig Lebenserfahrung? Hat ihm Wolfgang Kubicki nicht gut getan?

 

Ich hatte übrigens nach der verlorenen Bundestagswahl Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Bundesvorsitzende favorisiert. Ich denke nach wie vor, daß sie der FDP den richtigen Weg aus der Niederlage hätte weisen können - mit Lindner wieder als Generalsekretär.

 

Nicht den verbrannten Begriff liberal zu verpönen und weiter zu verbrennen, sondern neu zu beleben, wäre die Devise gewesen. Er muß neu geprägt und gefüllt werden - umfassend und für alle Menschen - unabhängig von Einkommen, Vermögen und Herkunft. Für mich ist und bleibt der Begriff Liberalismus als Ideologie der Freiheit positiv besetzt.

 

Dabei hat diese liberale Freiheit nichts mit Anarchie oder Anomie zu tun und bedeutet auch nicht Laissez-faire. Die Freiheit jedes Menschen findet in der Freiheit jedes anderen Menschen ihre natürliche Grenze. Aufgabe des demokratischen Verfassungsstaates ist der Ausgleich der unterschiedlichen Interessen. Der freiheitliche Rechtsstaat sorgt dafür, daß die Herrschaft von Menschen über Menschen durch die Herrschaft des Rechts ersetzt wird. Und der liberale Sozialstaat sorgt nicht selbst quasi bevormundend für die soziale Sicherheit seiner Bürger (z. B. durch Zwangssysteme wie die sogenannte Bürgerversicherung), läßt seine Bürger aber nach dem liberalen Grundwert der Brüderlichkeit auch nicht im Regen stehen, sondern stellt sicher, daß jeder für seine soziale Sicherheit vorsorgt - z. B. mit Hilfe des liberalen Konzepts einer negativen Einkommensteuer, eines "bedingungslosen" Grundeinkommens, eines Bürgergelds.

 

Lindner und seine Mitstreiter haben stattdessen immer wieder am rechten Rand gefischt. Der eine oder andere Freie Demokrat macht es immer noch - trotz Ampelkoalition.

 

Inzwischen hatte ich zeitweise den Eindruck, daß Lindner versucht, die "neue" FDP irgendwo zwischen dem Wirtschaftsrat der CDU e. V., den er gern und oft mit positiver Resonanz besucht, und der AfD-Interessengemeinschaft Alternative Mitte Deutschland (gemäßigte Liberal-Konservative), der Partei "Liberal-Konservative Reformer" von Bernd Lucke und dem Bundesarbeitskreis Homosexuelle in der AfD zu positionieren.

 

Bis zur Bundestagswahl im Jahr 2017 wurde dann das Wort liberal zwar wieder entdeckt, aber - zumindest aus meiner Sicht - nicht mit liberalen Inhalten gefüllt. Dabei meine ich nicht die Programme, sondern Aussagen, Botschaften und Forderungen der wesentlichen Repräsentanten der FDP.

 

Immer wieder wurde durch zweideutige, manchmal auch eindeutige Formulierungen versucht, Wähler und Anhänger der AfD und der Partei "Liberal-Konservative Reformer" abzuwerben, nicht indem man versucht, sie vom Liberalismus zu überzeugen, sondern indem man sich ihren Positionen annähert.

 

Wie sagte der Liberale Walter Scheel? "Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen."

 

"Sollte die Bundeskanzlerin mit den anderen EU-Staaten keinen fairen Kompromiss bei der Lastenverteilung erreichen, muss Deutschland künftig bereits an der Grenze wieder von der derzeitigen Dublin III-Regelung Gebrauch machen und mit Ausnahme von Familien mit kleinen Kindern sämtliche Bewerber in die europäischen Nachbarländer zurückweisen." Das ist für mich "AfD light" und nicht liberal.

 

Wie war das bei Linda Teuteberg mit der Hilfe für die unbegleiteten Minderjährigen in den Flüchtlingslagern vor allem auf der Insel Lesbos, was ist mit den Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsstaaten, in denen Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung nach wie vor verfolgt werden, und was war mit der Mehrehe einerseits und der Verantwortungsgemeinschaft andererseits? Für mich nicht liberal, sondern "AfD light" oder eine "'bessere' CDU der 1980er Jahre".

 

Es gibt verschiedene weitere Beispiele unter anderem von Lindner (z. B. Stichwort Bäckerei) und Nicola Beer (mit ihrem undurchsichtigen Verhältnis zu Viktor Orbán).

 

Und Katja Suding hat für die Freien Demokraten in der ARD-Sendung "Überzeugt uns! Der Politikercheck" erklärt, daß sie für ein Mehr an Zeitarbeitsverträgen, an befristeten Arbeitsverträgen sei. Die Menschen müßten sich an die sich verändernde Arbeitswelt, an die Wirtschaft anpassen.

 

In der liberalen Marktwirtschaft ist aber nicht der Mensch für die Wirtschaft, sondern ist die Wirtschaft für die Menschen da.

 

Wie sagte Ludwig Erhard? "Marktwirtschaft ist eine Veranstaltung für die Verbraucher, nicht für die Wirtschaft." Sie braucht einen starken Staat, der mit seiner Wirtschaftsordnungspolitik den Markt beaufsichtigt und überwacht, der dafür sorgt, daß die "Spielregeln" eingehalten werden, daß die Marktwirtschaft eine Veranstaltung für die Verbraucher und nicht für die Wirtschaft ist und vor allem auch bleibt.

 

Kapitalismus im Sinne von Manchester-, Monopol-, Anarcho-, Raubtier-, Heuschrecken-, Turbo- oder Kasinokapitalismus ist ebenso abzulehnen wie eine sozialistische oder kommunistische Zentralverwaltungswirtschaft, ein Staatsmonopolkapitalismus.

 

Der Staat betätigt sich selbst nicht als Unternehmer, setzt aber einen Rahmen, an den sich alle Beteiligten halten müssen. Dabei geht es primär darum, daß ein Markt mit einem produktiven Leistungswettbewerb erhalten bleibt (Vielfalt, Transparenz, Wettbewerb und Teilhabe) und alle Marktteilnehmer die gleichen Rechte und Pflichten und die gleichen Chancen haben und sich auf Augenhöhe begegnen.

 

Im Mittelpunkt der Marktwirtschaft stehen die Kunden, die Menschen und nicht die Konzerne, die Unternehmen und Arbeitgeber.

 

Wie konnte man Wolfgang Kubicki erneut als einen der Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages nominieren? Hat er sich nicht spätestens mit seinem Interview, das er am 21. September 2021 Bild gegeben hat, endgültig desavouiert, indem er sich öffentlich damit gebrüstet hat, sich nicht an geltende Rechtsvorschriften zu halten?

 

Und das war nicht der erste und einzige Fauxpas, den er sich geleistet hat, um am rechten Rand zu fischen. Hat er nicht auch sehr schnell Thomas L. Kemmerich zur Wahl zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gratuliert? Gewählt ausschließlich dank der Stimmen der AfD-Abgeordneten.

 

Wäre Kemmerich ein Liberaler, hätte er diese Wahl niemals annehmen dürfen, spätestens jedoch am nächsten Tag seinen Rücktritt erklären und auch auf eine Geschäftsführung verzichten müssen.

 

Kemmerich war 29 Tage lang Ministerpräsident des Freistaates Thüringen von AfD Gnaden, hat seinen Rücktritt nur nach massivem Druck erklärt. Das wäre für einen Liberalen unerträglich gewesen.

 

Hinzu kommt seine Teilnahme am 9. Mai 2020 als Redner an der Demonstration unter dem Motto "Corona-Exit mit Maß und Mitte" in Gera, auf der er sich von dem Veranstalter als "einziger aktuell legitimer Ministerpräsident" hat bezeichnen lassen, ohne eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen und die Abstandsregelungen einzuhalten.

 

Hat Kubicki nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Mitschuld an den rechtsextremen Übergriffen in Chemnitz gegeben? "Die Wurzeln für die Ausschreitungen liegen im 'Wir-schaffen-das' von Kanzlerin Angela Merkel“, sagte Kubicki den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Das ist nicht liberal. Das ist rechtspopulistisch.

 

Auch die COVID-19-Pandemie wurde von den Freien Demokraten leider dazu genutzt, sich bei den Sympathisanten der AfD und bei den sogenannten Querdenkern anzubiedern.

 

Man wird nicht dadurch glaubwürdig, daß man in der Opposition Maßnahmen kritisiert und Forderungen stellt, die man als Teil der Regierung selbst unterstützt oder nicht durchsetzen kann oder will. Außerdem hat man immer wieder so getan, als ob man über die Regierungen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein nicht auch Teil der Ministerpräsidentenkonferenz gewesen wäre.

 

Auch Joachim Stamp steht für die FDP als "AfD light". Die FDP NRW mit Joachim Stamp hat vor allem rund um die "Corona-Maßnahmen" zu allem ja und amen gesagt. Es hat in NRW bereits Ausgangssperren gegeben, bevor die "Bundes-Notbremse" in Kraft getreten ist, die die FDP auf Bundesebene für verfassungswidrig gehalten hat. Hat die FDP NRW also vorsätzlich Verfassungsbruch begangen?

 

War es nicht auch Stamp, der sich seinerzeit für die Abschiebung von Sami A. und gegen eine Rückholung ausgesprochen hat, obgleich es ein gegenteiliges Urteil eines Gerichts gegeben hat? Wollte er nicht auch vor allem Familien mit Kindern in den Flüchtlingslagern auf griechischen Inseln helfen? Fehlanzeige!

 

"Auf Anfrage hieß es am Montag [23.12.2019], die katastrophale Situation in den griechischen Lagern sei bekannt. ... Der Minister kann sich jedoch vorstellen, Familien mit kleinen Kindern aus den Lagern zu holen. ... Pauschal jedoch alle von den Inseln in Griechenland auf das Festland zu holen, sei ein Fehler. Das - so Stamp - würde nur das Geschäft der Schlepperbanden begünstigen." Hier wurde wieder am rechten Rand gefischt.

 

Dazu paßte dann auch die Aussage, als es um Flüchtlinge aus Afghanistan ging, daß ein genereller Abschiebestop von Schleppern propagandistisch ausgeschlachtet und als Generaleinladung uminterpretiert würde. Was soll das, wenn es um das Leben von Menschen geht?

 

Und obgleich er immer wieder gern als "LGBT-Minister" auftritt, hat er sich hinter dem Ressortprinzip versteckt und sich nicht in das Ressort seiner Kollegin Isabel Pfeiffer-Poensgen eingemischt, als es um die Unterstützung des Vereins homochrom ging.

 

Warum hat Joachim Stamp dann aber eine Betreuungsgarantie für die Schulen abgegeben, wenn er gar nicht für die Schulen zuständig ist? In diesem Fall hat ihn die Ressortzuständigkeit nicht interessiert.

 

Und da gibt es Freie Demokraten wie Gerhard Papke, denen ist diese FDP immer noch nicht konservativ genug. Sein Vorwurf der Beliebigkeit, der Unverbindlichkeit und auch des mehr Schein als Sein teile ich jedoch durchaus. Als Teil der Bundesregierung kommt nun die Stunde der Wahrheit.

Mit der Ampelkoalition verbinde ich gewisse Hoffnungen darauf, daß "meine" FDP wieder den Weg zum Liberalismus findet - und das nicht nur in Programmen und Wahlaufrufen, zu einem ganzheitlichen Liberalismus, der sich vom Sozialismus, Konservativismus und Nationalismus ebenso abgrenzt wie vom Anarchismus, Libertarismus und Kapitalismus, konsequent und radikal, freiheitlich und gleichzeitig sozial.

 

Ich setze daher auf die Zeit nach Lindner und Kubicki und auf junge Liberale wie Jens Brandenburg, Marcel Hafke, Martin Hagen, Alexander Hahn, Lukas Köhler, Konstantin Kuhle, Ria Schröder, Benjamin Strasser, Jens Teutrine und Johannes Vogel, aber auch auf Heiner Garg, Christopher Gohl, Michael Kauch und Marie-Agnes Strack-Zimmermann.

 

Liberal im politischen, im weltanschaulichen Sinne zeichnet sich nach meiner Überzeugung durch gemeinsame Grundwerte und -sätze aus - wie z. B. Freiheit (negative und positive, Freiheit von ... und Freiheit zu ...), Gleichheit (Rechts- und Chancengleichheit) und Brüderlichkeit (Subsidiarität und Solidarität), wie dem Kategorischen Imperativ von Immanuel Kant ("Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.") oder die sogenannte Goldene Regel ("Was du nicht willst, daß man dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu."), wie dem Bekenntnis zum demokratischen und freiheitlichen Verfassungs- und Rechtsstaat mit den garantierten Menschen- und Bürgerrechten und zur liberalen und damit sozialen und ökologischen Marktwirtschaft ("Konkurrenzkapitalismus") im Sinne des Ordoliberalismus, im Sinne der Freiburger Schule der Nationalökonomie, wie sie der liberale Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard ab 1949 in der Bundesrepublik Deutschland einführen wollte.

 

Zur liberalen Marktwirtschaft gehört für mich auch der liberale Sozialstaat, ein Staat, der sich nicht nur sozial nennt, sondern tatsächlich sozial ist, ohne die Menschen zu bevormunden und zu gängeln: Dieser freiheitliche und gleichzeitig soziale Staat sorgt nicht selbst quasi bevormundend für die soziale Sicherheit seiner Bürger (z. B. durch Zwangssysteme wie die sogenannte Bürgerversicherung), läßt seine Bürger aber auch nicht im Regen stehen.

 

Der Liberalismus ist für mich aus sich heraus eine Weltanschauung, die offen für neue Entwicklungen ist, die immer wieder alles auf den Prüfstand stellt, in Zweifel zieht und nach Lösungen sucht, die freiheitlich und gleichzeitig sozial sind.

 

Liberale stehen meiner Ansicht nach für einen rationalen und wissenschaftlichen Umgang mit allen Problemfeldern der Politik. Es geht um sachorientierte bzw. expertengestützte Lösungen.

Die folgenden Bücher kann ich dazu sehr empfehlen: Karl-Hermann Flach, Noch eine Chance für die Liberalen, Guido Westerwelle mit Dominik Wichmann, Zwischen zwei Leben: Von Liebe, Tod und Zuversicht, Gerhart Baum und Burkhard Hirsch, Der Baum und der Hirsch - Deutschland von seiner liberalen Seite, Hans-Dietrich Genscher, Meine Sicht der Dinge und Gerhart Baum, Freiheit - ein Appell.