E-Mail an die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW
----- Original Message -----
From: Wolfgang Gerstenhöfer
Sent: Sunday, April 06, 2014 5:26 PM
Subject: G8 oder G9?
Sehr geehrter Herr Leisner,
mit Interesse habe ich Ihren Beitrag unter der Überschrift "Keine Rolle rückwärts" gelesen.
Ich weiß nicht, mit welchen Schülern Sie an welchen Gymnasien gesprochen haben und auf welche "jüngsten Untersuchungen" Sie sich beziehen, und
ich weiß auch nicht, in welchem Alter Ihre Kinder sind, von den beiden Gymnasien, die meine beiden Töchter besuchen, kann ich Ihre Eindrücke nicht bestätigen.
Fehler müssen korrigiert werden. Das gilt in der Schule und das gilt in der Politik.
Die Verkürzung der Schulzeit an den Gymnasien bis zum Abitur von neun auf acht Jahren war ein Versuch. Dieser Versuch ist gescheitert.
Er ist nach meiner Überzeugung daran gescheitert, daß es sich die Damen und Herren Politiker mal wieder zu einfach gemacht haben.
Sie schreiben, wenn die Bedingungen für guten Unterricht stimmten, werde viel Druck aus dem Kessel genommen. Da gebe ich Ihnen voll und ganz
Recht.
Das ist aber doch das Problem. Die Bedingungen stimmen an vielen, meines Erachtens an den meisten Gymnasien eben nicht.
Die Schulzeitverkürzung wurde von der Politik beschlossen und dann hat man den Schwarzen Peter an die einzelnen Gymnasien weiter gereicht -
nach dem Motto "Friß, Vogel, oder stirb."
Nach meiner Überzeugung hatten einige der beteiligten Politiker auch genau dies im Hinterkopf. Es ist ein weiterer Versuch, die Gymnasien
mittel- bis langfristig sterben zu lassen.
Da man die Gesamtschulen nicht wirklich durchsetzen konnte, fallen nun die Haupt- und Realschulen der Sekundarschule zum Opfer und die
Gymnasien den Gesamtschulen, denn dort wurde die Schulzeit bis zum Abitur nicht verkürzt.
Bis heute ist es nicht gelungen, die Lehrpläne an die Schulzeitverkürzung anzupassen. Die einzelnen Gymnasien waren und sind damit
völig überfordert.
Der Druck auf die Schüler wächst immer mehr. Freizeit findet kaum noch statt - dank Nachmittagsunterricht und oft notwendiger
Nachhilfe.
Psychische Erkrankungen nehmen nun auch bei Kindern und Jugendlichen aufgrund des Stresses immer mehr zu. Wo soll das hinführen?
Welche volkswirtschaftlichen Schäden wollen und können wir uns noch leisten? Ist es nicht schon schlimm genug, daß unsere Wirtschaft immer
mehr Arbeitnehmer ins Born-out und in andere psychische Erkrankungen treibt?
Die Befürchtung, wieder Unruhe ins System zu bringen, kann doch nicht bedeuten, daß man wider besseren Wissens an einer falschen
Entscheidung festhält.
Und diese Entscheidung war falsch, vor allem ohne gleichzeitig darüber zu entscheiden, auf welche Lernziele und Unterrichtsinhalte man
verzichtet.
Außerdem hat man beim Blick über den Tellerrand, ins Ausland übersehen, daß dort bei kürzerer Schulzeit in der Regel der
Elementarbereich viel stärker Teil des Schulsystems und ganz anders organisiert ist.
Hier wurden - und das macht man ja sehr gern - wieder einmal Äpfel mit Birnen verglichen.
Zunächst muß die Politik gemeinsam mit der Schulverwaltung ihre Hausaufgaben erledigen und dann, dann kann man über eine
Schulzeitverkürzung nachdenken.
Es ist nie gut, den zweiten oder gar den dritten Schritt vor dem ersten Schritt zu machen. Das ist hier leider (wieder einmal)
geschehen.
Ganz unabhängig von dem Thema "G8 oder G9" wäre es im Interesse der Schüler, aber auch unserer Gesellschaft wünschenswert, wenn die
Politik endlich damit aufhören würde, über die Schulformen zu diskutieren, und sich endlich mit Lernzielen und -inhalten, mit Lehr- und Lernmethoden, mit Lernmitteln und der Ausstattung der
Schulen und mit der Motivation und Qualifikation der Lehrer und auch der Schulbürokratie befassen würde.
Da wundert man sich über die vermeintliche Abhängigkeit des Bildungsabschlusses von der sozialen Herkunft. Wenn man die Schüler immer mehr
mit dem in immer kürzerer Zeit zu bewältigenden Unterrichtsstoff alleine läßt, muß man sich doch nicht darüber wundern, daß die Kinder Vorteile haben, deren Eltern entweder die Rolle des
Hilfslehrern intellektuell und auch zeitlich übernehmen können oder eben finanziell in der Lage sind, für professionelle Nachhilfe am Nachmittag und Abend zu sorgen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Für Fragen und nähere Einzelheiten stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für die bevorstehenden Ostertage - auch an und für Ihre Kollegen im Vorstand der
Landeselternschaft der Gymnasien in Nordrhein-Westfalen e. V.
Ihr Wolfgang Gerstenhöfer
Zaunkönigweg 5
50189 Elsdorf/Rheinland